Aber bevor man Platz nahm, erschien ein Photograph, ein schmächtiges quicklebendiges Männchen mit viel zu langem schwarzem Haar, das ihm ständig in die Augen fiel und das er dann mit einer herrischen Kopfbewegung zurückschleuderte. Er bat die Anwesenden, sich in einem Halbkreis um Timm zu gruppieren. (Zu den Direktoren war eine große Anzahl anderer Leute gekommen, denen Timm aber nicht die Hand schütteln mußte.)
Das photographische Männlein hatte seinen Apparat auf ein Stativ geschraubt, blickte durch den Sucher, dirigierte die Gesellschaft mit wildem Armefuchteln und schrie dazu fortwährend: „Ridere! Sorridere! Sorridere, prego! “
Timm, der vor Grandizzi stand, fragte den Direktor über die Schulter: „Was sagt er?“
„Er sagt, du sollst... Verzeihung, Sie sollen... Also, er sagt: Wir sollen laken!“
„Danke!“ sagte der Junge. Er war ungewöhnlich blaß. Der Photograph wandte sich jetzt direkt an ihn und wiederholte: „Sorridere, signore! Läkeln, bitte!“ Nun starrte alles auf den Jungen, der die Lippen zusammengepreßt hatte. Der Photograph wiederholte verzweifelt: „Läkeln, biite sarr!“ Der Baron, der noch hinter Grandizzi stand, sprang Timm mit keinem helfenden Wort bei.
Da sagte der Junge: „Mein Erbe ist eine schwere Bürde, Herr Photograph. Ich weiß noch nicht, ob ich darüber lachen oder weinen soll. Erlauben Sie mir, das Lachen oder Weinen abzuwarten.“
Durch den Halbkreis, der ihn umgab, lief ein Flüstern. Teils übersetzte man die Worte leise, teils sprach man bewundernd oder verwundert über Timm. Nur Lefuet zeigte eine belustigte Miene.
Die Aufnahme kam jetzt jedenfalls zustande, und zwar ohne lächelnden Erben. Dann setzte man sich an den Tisch. Timm wurde von Grandizzi und dem Baron flankiert. Grandizzis Spitzentaschentuch strömte immer noch Nelkenduft aus. Es roch wie süßer Pfeffer.
Vor dem Essen wurden mehrere Reden gehalten, einige in Italienisch, einige in gebrochenem Deutsch. Und immer, wenn man lachte, rückte oder applaudierte, blickten sämtliche Leute auf den Jungen am Kopf der Tafel.
Einmal flüsterte der Baron ihm zu: „Sie haben sich mit Ihrer übereilten Wette kein leichtes Leben eingehandelt, Herr Thaler.“
Timm flüsterte zurück: „Ich wußte, was mich erwartet, Baron.“ (In Wirklichkeit war ihm nie schrecklicher zumute gewesen als hier zu Häupten der Tafel, wo man ihn anstarrte wie ein exotisches Tier. Aber der feste Vorsatz, sich dem Baron gewachsen zu zeigen, stärkte ihn und hielt ihn aufrecht.)
Einen kurzen Augenblick lang dachte Timm an Jonny, den Steuermann. Da war er plötzlich wieder der kleine Junge, der am liebsten geheult hätte. Aber zum Glück begann genau in diesem Augenblick die Rede Lefuets, und Timm hatte sich wieder in der Gewalt.
Der Baron rühmte zuerst die Fähigkeiten seines angeblich verstorbenen Bruders, sprach dann von den hohen Aufgaben der Leute, die großen Reichtum zu verwalten hätten, und wünschte zum Schluß mit ein paar kurzen Sätzen dem jungen Erben die Kraft und die Weisheit, ein so gewaltiges Erbe auf die rechte Weise zu nützen. Dann sagte er einige Worte auf italienisch. Es schien ein Scherz zu sein; denn er lachte wie ein kleiner Junge.
Die Damen und Herren an der Tafel waren davon so bezaubert, daß sie mitlachten und heftig klatschten.
Timm blieb diesmal unberührt davon. Er trug jetzt stets die Armbanduhr, die Herr Rickert ihm in Hamburg geschenkt hatte; und auf die blickte er gerade. Es war achtzehn Uhr dreißig, halb sieben. Um acht wollte er Jonny treffen. Und nach den Tellern, Gläsern und Bestecken auf dem Tisch zu urteilen, würde das Essen lange dauern. Er mußte also vielleicht eher aufbrechen als die übrige Gesellschaft. Und wie sollte er das anstellen, da er doch die Hauptperson war?
Tatsächlich nahm das Essen sehr viel Zeit in Anspruch. Als nach der Suppe und der Vorspeise das Hauptgericht kam - Nieren in Weißwein - war es bereits zwanzig nach sieben.
Timm hatte - mit den Gedanken immer bei Jonny - die Schwierigkeit vornehmer Tafelsitten gar nicht bemerkt. Er aß so, wie er es im Salon des Dampfers „Delphin“ gesehen hatte, und der Baron fiel über die ebenso natürlichen wie hübschen Manieren des Jungen von einem Verwundern ins andere. Er murmelte, als er die Gabel gerade zierlich in ein Nierenstückchen stach: „Den Burschen habe ich unterschätzt.“
Als es zwanzig Minuten vor acht war, beugte Timm sich hinüber zum Baron und sagte: „Ich müßte einmal... “
Lefuet erwiderte, ehe das peinliche Wort ausgesprochen war: „Die Waschräume befinden sich im Gang hinter der Tür rechts.“
„Danke“, sagte Timm, erhob sich und ging, von wenigstens hundert Augenpaaren verfolgt, an der Tischreihe entlang zur Tür rechts. Er bemühte sich dabei, so zu gehen, wie ein normaler Junge von vierzehn Jahren eben geht.
Draußen auf dem Flur kam ihn die Lust an, ein außerordentlich unanständiges Wort hinauszuschreien. Aber dort stand ein Diener in vergoldeter Livree; und also ging Timm ruhig und beherrscht in den Waschraum, wo er das Wort vor dem Spiegel dreimal sehr langsam und deutlich aussprach.