Die feierlichen Herren am Bug sahen ihn bestürzt an. Einer balancierte in der schwankenden Barkasse auf ihn zu und fragte: „Kann ich behilflich sein? Übrigens: Pampini mein Name, Chefdolmetscher des Werkes.“ Offensichtlich hatte er die Gelegenheit nur benutzt, um sich dem reichen Erben vorzustellen. Aber als er dem Jungen die Hand geben wollte, bog die Barkasse gerade scharf nach rechts ein. Er fiel Timm auf den Schoß, rappelte sich mit hundert Entschuldigungen wieder auf, fiel aber bei einer neuerlichen Kurve Direktor Grandizzi in den Schoß.
Der Direktor brüllte mit rotem Kopf zuerst den Dolmetscher und dann den Steuermann der Barkasse an. Den einen nannte er einen Tolpatsch, den anderen einen Esel. Dann fiel ihm ein, daß der Steuermann kein Deutsch verstand, und er wiederholte den Fluch italienisch, wobei er mindestens fünfmal so lang wurde.
Der Dolmetscher zog sich geduckt zur Bankecke am Bug zurück. Gleich darauf legte die Barkasse an den Stufen einer Mole an.
Ein Chauffeur in blauem Anzug stand bereits da, die blaue Mütze ehrerbietig in der Hand. Von ihm sanft gezogen und vom Direktor mehr symbolisch als praktisch gestützt, verließ Timm als erster die Barkasse. Man behandelte ihn, als sei er ein sehr alter kranker Herr.
Oben auf der Mole verdeckte eine Reihe dunkel gekleideter Herren ihm die Sicht auf die Stadt Genua. Direktor Grandizzi stellte sie ihm der Reihe nach vor. Sie hatten alle Namen, die auf izzi oder ozzi endeten und die Timm sofort wieder vergaß.
Das Merkwürdigste an allem war, daß das feierliche Murmeln und Vorstellen einem vierzehnjährigen Jungen galt, der die schwarzweiß karierte, an den Knien ausgebeulte Hose der Köche und den etwas zu großen Rollkragenpullover Jonnys trug. Es war, genaugenommen, ein Bild zum Schief-und-Krumm-Lachen. Aber alles blieb todernst. Und vielleicht war das gut für den armen Timm.
Auch das Folgende ging mit Ernst und gezirkelter Würde vor sich: Ein schwarzes Auto mit sechs Türen fuhr vor, der Chauffeur riß erst für Timm und dann für Direktor Grandizzi die Türen auf, man setzte sich in die roten Lederpolster, der Wagen fuhr an, und die ganze Reihe wohlgekleideter Herren hob die rechte Hand und winkte ihnen gemessen nach.
Erst während der Fahrt fiel Timm der Seesack des Herrn Rickert ein, den er mit all seinen Sachen auf dem Dampfer vergessen hatte. Als er dem Direktor davon erzählte, lächelte Grandizzi: „Natiirlik wir kennen holen die private Sache von der Dampfer, signore. Aber die Herr Baron haben bereits für einer eleganten Garderobe gesorkt.“
„Der Baron?“ fragte Timm verdutzt.
„Die neue Herr Baron, signore!“
„Ach so!“ Timm lehnte sich ins Polster zurück und sah durch das Fenster zum erstenmal ein Stück von Genua: ein Marmorportal und ein Messingschild, auf dem „Hotel Palmarostand. Dann glitt der Fächer einer brusthohen Palme vorbei, dann eine runde Blumenrabatte mit einem Lavendel“ Strauch in der Mitte. Und dann hielt der Wagen sehr sanft. Der Schlag wurde aufgerissen, und ein uniformierter Portier mit Goldschnüren nahm Timms Arm und komplimentierte ihn wieder so behutsam ins Freie wie einen alten Mann.
Timm stand vor einer Freitreppe aus Marmor, von deren oberster Stufe jemand „willkommen“ rief. Es war ein Herr in einem karierten Anzug, der eine riesige Sonnenbrille trug.
„Der neie Herr Baron, die Zwillingsbruder“, flüsterte Grandizzi dem Jungen ins Ohr. Aber Timm glaubte nicht so recht an den Zwillingsbruder. Und als der neue Baron die Freitreppe herunterkam und lachend ausrief: „Was für ein reizendes Räuberzivil!“, da wußte Timm mehr als der Direktor. Er hatte den Mann an seinem eigenen Lachen erkannt. Es gab gar keinen Zwillingsbruder.
Der Baron lebte. Und mit ihm lebte Timms Lachen.
In seinem prachtvollen Hotelzimmer, oder besser: in einer Flucht von drei Zimmern, die man Appartement nennt, war Timm nach all den Aufregungen zum erstenmal allein. Der Baron war zu einer Besprechung fortgefahren und hatte erklärt, daß er Timm wieder abholen werde.
Der Junge, der noch immer die karierte Hose und den zu weiten Pullover trug, lag halbaufgerichtet auf einer Chaiselongue. Rücken und Kopf ruhten auf einem Berg gestreift ter Seidenkissen. Die Füße baumelten über den Rand der Liege. Timm starrte auf einen Kronleuchter, der einem Gebilde aus gläsernen Tränen glich.
Seit langer Zeit fühlte der Junge sich zum ersten Male wieder beinahe wohl. Es lag nicht an der wunderlichen Verwandlung, die der plötzliche Reichtum gebracht hatte; denn davon hatte Timm noch gar keinen rechten Begriff: Es lag daran, daß er sein Lachen lebendig wußte. Auch war ihm nach all der Verwirrung eines klar: Der Baron war jetzt sein Vormund, und das hieß, er war an Timm gebunden. Auf der Jagd nach seinem Lachen hatte Timm das Wild vor der Nase. Jetzt galt es, die verwundbare Stelle zu finden. (Timm wußte noch nicht, daß man eine schwierige Lage aus der Ferne besser übersieht als aus der Nähe.)