Seine bange Ungeduld wurde auf eine harte Probe gestellt; denn es dauerte viele Tage, bis der Dampfer „Delphin“ endlich in den Hafen von Genua einschwenkte. Es war an einem strahlend blauen Tag kurz vor Mittag. Timm war unter einem Vorwand in das Steuerhaus getreten. Hier stand er nun neben Jonny, dem Steuermann, und schaute hinüber zur Oberstadt von Genua. Er trug die schwarz-weiß karierte Hose und die Schürze aus dickem grauem Leinen, die ihm der Koch Enrico zum Kartoffelschälen gegeben hatte. Die Häuser Genuas sah man schon deutlich. Sogar Omnibusse und Autos konnte man in den Straßen der Oberstadt erkennen. Und mit jedem Augenblick wurde die Sicht klarer.
Plötzlich gab Jonny einen überraschten Laut von sich, halb war’s ein Glucksen, halb ein Brummen. Timm sah ihn verwundert an: Der Steuermann hatte die Augen zusammengekniffen. Jetzt öffnete er sie wieder, aber nur, um sie gleich darauf abermals zu schließen und sie danach wieder weit aufzureißen. Dann sagte Jonny ganz langsam und beinahe feierlich: „Ich werd’ verrückt!“
Timm ahnte etwas. Er hatte einen sehr trockenen Hals. Aber er wagte nicht, den Blick wieder auf Genua zu richten. Er starrte weiter unverwandt den Steuermann an.
Jonny sah ihn jetzt auch an und sagte kopfschüttelnd: „Du hattest recht, Timm; es gibt in Genua fliegende Straßenbahnen. Die Wette hast du gewonnen.“
Timm schluckte schwer. Es hatte keinen Sinn mehr, die Augen von dem Unvermeidlichen abzuwenden. Er drehte den Kopf und blickte hinüber zur Oberstadt. Dort schwebte in einer Straße, mitten zwischen den Häusern, eine Straßenbahn durch die Luft, eine richtige Straßenbahn. Es war deutlich zu erkennen.
Aber mit einem Male erschien Pflaster unter der Straßenbahn, festes Straßenpflaster mit Schienen darin. Mit einem Male schwebte die Straßenbahn nicht mehr, sondern rollte auf Schienen die Straße entlang.
„Es war nur eine Luftspiegelung“, rief Timm fast jubelnd. „Ich habe die Wette verloren!“
„Du tust, als freutest du dich über die verlorene Wette“, sagte Jonny erstaunt, und Timm merkte, daß er einen Fehler gemacht hatte. Aber ehe er sich korrigieren konnte, fuhr Jonny fort: „Du hast die Wette trotzdem gewonnen, Timm. Die Wette ging nämlich darum, ob man in Genua fliegende Straßenbahnen sehen kann, und nicht darum, ob es sie wirklich gibt. Und gesehen habe ich sie, daran ist kein Zweifel.“
„Dann habe ich also doch gewonnen. Wie schön!“ sagte Timm. Und diesmal versuchte er, seiner Stimme einen freudigen Ton zu geben. Aber die Stimme blieb heiser und ohne Spur von Fröhlichkeit. Es war nur gut, daß Jonny auf das Steuerruder achtgeben mußte.
„Wie bist du nur auf diese verrückte Wette gekommen?“ fragte er über die Schulter. „Hast du öfter solch merkwürdiges Wettglück?“
„Ich habe noch nie eine Wette verloren“, antwortete Timm gleichgültig. „Ich gewinne jede.“
Der Steuermann warf ihm einen kurzen Blick zu. „Spiel dich nicht auf, Junge! Es gibt Wetten, die kann man einfach nicht gewinnen.“
„Zum Beispiel welche?“ fragte Timm gespannt. „Nennen Sie mir eine solche Wette!“
Wieder ein kurzer forschender Blick des Steuermanns. An dem Jungen war ihm irgend etwas nicht geheuer. Aber er war gewohnt, auf Fragen Antwort zu geben. So schob er seine weiße Mütze in die Stirn und kratzte sich am Hinterkopf. Wieder flog etwas Hartes ans Fenster. Jonny drehte den Kopf, sah aber nichts. Und plötzlich fiel ihm eine Antwort ein.
„Ich wüßte eine Wette, die du unmöglich gewinnen kannst, Timm.“
„Auf diese Wette gehe ich ein, ehe ich sie gehört habe, Steuermann. Wenn ich sie verliere, können Sie Ihre Flasche Rum behalten! “
„Du willst die Katze im Sack kaufen, Junge? Meinetwegen. Rum ist Rum, und wenn du unbedingt verlieren willst: Bitte schön! Wette also mit mir...“
Der Steuermann unterbrach sich, sah den Jungen an und fragte: „Du schließt diese Wette bestimmt mit mir ab? Ich frage nur wegen der Flasche Rum.“
„Ich gehe auf diese Wette ein!“ sagte Timm so bestimmt, daß Jonny beruhigt war.
„Also dann wette mit mir, daß du noch heute abend reicher sein wirst als der reichste Mann der Welt.“
„Reicher als Lefuet also?“ fragte Timm fast atemlos.
„Genau das! “
Da streckte der Junge die Rechte schneller vor, als Jonny erwartet hatte. Dies war die unmögliche Wette. Die Wette, die er verlieren mußte. Mit lauter Stimme sagte Timm: „Ich wette mit Ihnen um eine Flasche Rum, daß ich noch heute abend reicher sein werde als der Baron Lefuet.“
„Junge, du bist plemplem“, sagte Jonny und ließ Timms Hand los. „Aber ich habe wenigstens meine Flasche Rum zurück.“
In diesem Augenblick kam der Kapitän ins Steuerhaus.
„Was macht denn der Moses hier?“ fragte er mürrisch.
„Er soll mir eine Tasse Kaffee bringen, Käptn!“ sagte Jonny.
„Dann soll er sich gefälligst tummeln!“ Timm mußte hinunterspringen in die Kombüse. Er hätte dabei singen mögen. Aber wer nicht lachen kann, kann auch nicht singen.