Mikhel begleitete ihn zur Tür, ganz der Gentleman, der Toby Esterhase nicht war. Elvira saß rauchend an ihrem Platz neben dem Samowar und betrachtete dasselbe Bild mit den Birken. Als sie an ihr vorbeigingen, hörte Smiley eine Art Zischen, das aus dem Mund oder aus der Nase oder aus beidem kam, als eine letzte Bekundung ihrer Verachtung.
»Was werden Sie nun tun?« fragte Mikhel, als richte er sich an die trauernden Hinterbliebenen. Aus dem Augenwinkel heraus sah Smiley, wie ihr Kopf sich hob und ihre Finger sich über die Seite spreizten. Eine letzte Idee kam ihm: »Und die Handschrift haben Sie nicht erkannt?« fragte er.
»Welche Handschrift meinen Sie, Max?«
»Die auf dem Umschlag aus Paris.«
Plötzlich hatte er keine Zeit mehr, um auf die Anwort zu warten, plötzlich war er die dauernden Ausflüchte leid.
»Good bye, Mikhel.«
»Leben Sie wohl, Max.«
Elviras Kopf neigte sich wieder über die Birken.
Ich werde es nie erfahren, dachte Smiley, als er schnell die Holztreppe hinunterging. Niemand von uns wird es erfahren. War er Mikhel, der Verräter, der dem alten Mann verübelte, daß er mit ihm seine Frau teilen mußte und der nach der Krone dürstete, die man ihm zu lange vorenthielt? Oder war er Mikhel, der selbstlose Offizier und Gentleman, Mikhel, der ewig treue Diener? Oder war er vielleicht, wie viele treue Diener, beides?
Er dachte an Mikhels Kavalleristenstolz, der so schrecklich verletzbar war wie jede andere Mannestugend eines Helden. An seinen Stolz, der Hüter des Generals zu sein, den Stolz, sein Statthalter zu sein. Das schmachvolle Gefühl, ausgeschlossen zu werden. Dann wieder sein Stolz - in wieviele Wege er sich verästelte! Doch wie weit reichte er? Bis zum Stolz, jedem Herrn nobel aufzuwarten, zum Beispiel?
Er dachte an den siebenseitigen Brief aus Paris. Er dachte an zweite Beweise. Er fragte sich, bei wem die Fotokopie wohl gelandet war - vielleicht bei Esterhase? Er fragte sich, wo das Original sein mochte. Wer ist wohl nach Paris gegangen, fragte er sich. Wenn Willem nach Hamburg ging, wer war dann der kleine Magier? Er war hundemüde. Seine Müdigkeit setzte ihm zu wie ein Virus. Er fühlte sie in den Knien, in den Hüften, in seinem ganzen erlahmenden Körper. Doch er marschierte weiter, denn sein Geist verweigerte die Rast. Und überdies war der Augenblick gekommen, wo er nicht mehr eskortiert werden wollte, weder von Freund noch von Feind.
11
Gehen konnte die Ostrakowa gerade noch, und gehen war das einzige, was sie wollte. Gehen und auf den Magier warten. Nichts war gebrochen. Wenn auch ihr kleiner stämmiger Körper, nachdem man sie gebadet hatte, schwarzfleckig wurde wie eine Karte von den sibirischen Kohlefeldern, so war doch nichts gebrochen. Und ihr armes Kreuz, das ihr im Lagerhaus immer ein bißchen zu schaffen gemacht hatte, sah bereits so aus, als hätten die vereinten Geheimarmeen Sowjetrußlands sie mit Fußtritten quer durch Paris gejagt: Doch gebrochen war nichts. Sie hatten jeden einzelnen Teil von ihr durchleuchtet, sie wie Fleisch zweifelhafter Qualität nach inneren Blutungen abgetastet. Nur um ihr schließlich düster zu erklären, daß sie das Opfer eines Wunders sei.
Sie hatten sie trotzdem behalten wollen. Zur Behandlung ihres Schocks, zur Verabreichung von Beruhigungsmitteln - wenigstens für eine Nacht! Die Polizei, die sechs Zeugen ermittelt hatte, mit sieben einander widersprechenden Aussagen (War der Wagen grau oder blau? ein Marseiller oder ein ausländisches Nummernschild?), die Polizei hatte sie lange vernommen und gedroht, zwecks weiterer Einvernahme zurückzukommen. Doch die Ostrakowa hatte trotz allem ihre Entlassung aus dem Krankenhaus durchgesetzt.