»Warum nicht?« sagte Lyss nachdenklich. »Immerhin war sie seine Frau. Wem soll er vertrauen, wenn nicht seinem eigenen Weib? Aber erzähle weiter, Tally – du hast also seine Stelle eingenommen und bist hierher gekommen, um der Sippe unsere Befehle zu überbringen. Aber wie kommst du hierher? Hat dir Hraban niemals gesagt, daß es verboten ist, sich dem Turm zu nähern?«
»Doch«, antwortete Tally hastig. »Er hat mir alles gezeigt. Die Fallen und die Gedankensperren und... und er hat von Wesen gesprochen, die den Turm bewachen, schrecklichen Werwesen, die alles töten, was sich bewegt.
»Nun, alles offensichtlich nicht«, sagte Lyss amüsiert.
»Du bist hier, oder?«
»Es... war der Sturm, Herrin«, antwortete Tally nervös.
»Ach – und der hat dich hergeweht, wie?« fragte Lyss spöttisch.
»Ja«, antwortete Tally. Lyss runzelte verärgert die Stirn, sagte aber nichts, und Tally fuhr fort: »Ich geriet in einen Sandsturm – den schlimmsten, den ich jemals erlebt habe. Ich bin einfach geflohen, Herrin. Mein Pferd stürzte, und ich rannte zu Fuß weiter und kam hierher. Das ist die Wahrheit, Herrin!«
»Unmöglich!« behauptete Maya. »Die Gedankensperren...«
»Es könnte sein«, unterbrach sie Lyss, ohne den Blick von Tally zu nehmen. »Wenn sie vor Angst halb wahnsinnig war, könnte es sein. Es ist unwahrscheinlich, aber möglich. «
»Und die Werwesen?« fragte Maya zornig.
»Ich habe keine gesehen«, antwortete Tally. »Der Sturm war entsetzlich. Ich... ich bin einfach blindlings losgestolpert, und plötzlich war ich in einem Gebäude, das halb vom Sand zugeweht war. Ich habe mich darin verkrochen, bis der Sturm nachließ.«
Lyss blickte sie sehr lange und sehr nachdenklich an. Tally hätte in diesem Moment ihre rechte Hand dafür gegeben, ihre Gedanken lesen zu können – obwohl es auf der anderen Seite nicht einmal so schwer war, sie zu erraten. Lyss traute ihr nicht, aber sie konnte ihre Geschichte auch nicht direkt widerlegen. Und vor allem wollte sie wissen, was
»Es könnte so gewesen sein«, sagte die Drachenreiterin nach einer Weile. »Es ist unwahrscheinlich, aber es könnte sein. Es war der schlimmste Sturm seit Jahrzehnten, Maya. Der Verteidigungsgürtel ist schon einmal zusammengebrochen, während eines Sturmes. Trotzdem glaube ich ihr nicht.«
»Aber ich sage die Wahrheit! « sagte Tally verzweifelt. Sie mußte ihre Angst jetzt nicht einmal mehr spielen. »Es war so. Als... als der Sturm nachließ, kam ich heraus und fand die erschlagenen Hornköpfe und die beiden toten Frauen, und...«
»Die
»Was hast du erwartet?« sagte Lyss leise. »Sie wäre hier, wenn sie noch am Leben wäre.« Sie lachte ganz leise. »Jemand hat den Sturm ausgenutzt, die Sperren zu durchbrechen und hier alles kurz und klein zu schlagen. Und ich werde herausfinden, wer es ist.«
»Vielleicht eine der anderen Sippen?« sagte Maya.
»Die Ancen-Leute sind in den letzten Jahren aufsässig geworden. Möglicherweise...«
»Möglicherweise«, unterbrach sie Lyss, »vertun wir unsere Zeit mit nutzlosen Vermutungen und Spekulationen, während Tionns und Farins Mörder noch ganz in der Nähe sind. Der Sturm war vor fünf Tagen. Sie können die Wüste noch nicht wieder verlassen haben.« Sie überlegte einen Moment, dann drehte sie sich mit einem Ruck um und wies mit einer herrischen Geste auf einen der Hornköpfe. »Geh und suche Vakk«, befahl sie.
»Er soll herkommen. Wir wollen sehen, was an der Geschichte unserer kleinen Freundin hier wahr ist, und was nicht.« Bei diesen Worten sah sie Tally auf eine sehr unangenehme, beinahe zynische Weise an, und auch in Mayas Augen glomm wieder dieses böse, grausame Lächeln auf. Tallys Angst wuchs. Sehnsüchtig blickte sie auf den Vorhang, hinter dem sich der Balkon verbarg. Sie hoffte inständig, daß Hrhon und Essk hörten, was hier gesprochen wurde, denn sie selbst hatte keine Möglichkeit, sie zu warnen oder gar um Hilfe zu rufen. Die beiden Wagas waren verloren, wenn die drei Frauen sie in ihrem Versteck unter dem Balkon entdeckten. Selbst ein Kind konnte sie kurzerhand in die Tiefe stoßen, während sie versuchten, über die Balkonbrüstung zu steigen, schwerfällig, wie sie waren.
Lyss bemerkte ihren Blick, wandte sich stirnrunzelnd um und schlug mit einem Ruck den Vorhang beiseite. Tallys Herz machte einen schmerzhaften Sprung und schien in ihrer Kehle zu einem pulsierenden Knoten zu gefrieren, als sie sah, wie die Drachenreiterin mit einem Schritt auf den Balkon hinaustrat, einen Moment lang in die Tiefe blickte und sich dann vorbeugte, beide Hände auf dem Gitter abgestützt.
»Ich sage die Wahrheit, Herrin«, sagte sie hastig und zum wiederholten Male. »Ich fand diesen Turm so vor. Alles war verwüstet.«