Die Beterin und der schwarze Koloß waren ein Problem, die drei Frauen nicht. Sie verließen sich zu sehr auf die überlegene Macht ihrer Waffen, und das war etwas, was Tally kannte. Sie hatte eine Menge Männer und Frauen beerdigt, die diesen Fehler begangen hatten. Sie versuchte nicht mehr, ein Gespräch mit Maya zu beginnen, aber sie nutzte die Zeit, sich ihr Gegenüber zum erstenmal in Ruhe zu betrachten. Von Mayas Gesicht war nicht viel zu erkennen – die schwarze Kappe, die ihren Kopf bedeckte und nahtlos in die Schultern ihres Anzuges überging, gab ihren Zügen etwas Nonnenhaftes und machte es außerdem fast unmöglich, ihr Alter zu schätzen. Aber sie hatte jene ganz bestimmte Art zu sprechen, die den Menschen verriet, der Befehle zu erteilen gewohnt war, und in ihrem Blick lag eine Spur von Grausamkeit. Ihre Haut war sehr bleich, und ihre Lippen hatten einen ganz leichten Stich ins Bläuliche. Es mußte sehr kalt gewesen sein, dort oben am Himmel.
Das Sonderbarste an ihr aber war die Kleidung. Der schwarzglänzende Anzug schien aus einem einzigen Stück gefertigt zu sein und bedeckte ihren Körper von den Zehenspitzen bis zum Scheitel. Um ihre Hüften spannte sich ein breiter Gürtel, in dem ihr Schwert und die kleine Waffe gesteckt hatten und an dem zahllose kleine Taschen und Schnallen befestigt waren. Vor ihrer Brust hing etwas, das Tally entfernt an eine Sandmaske erinnerte, nur daß sie das ganze Gesicht Mayas bedecken mußte, denn ihr oberstes Drittel bestand aus sorgfältig geschliffenem Glas.
»Nun?« fragte Maya plötzlich. »Bist du zufrieden mit dem, was du siehst?«
»Ich... ich verstehe nicht, was Ihr meint, Herrin«, antwortete Tally schüchtern. Sie versuchte zu lächeln.
»Verzeiht, wenn ich Euch angestarrt habe. Aber...«
»Ach, halt endlich den Mund«, unterbrach sie Maya.
»Und hör auf, mich unentwegt anzuglotzen. Du...« Sie stockte. Ihre Augen wurden groß vor Schrecken, als ihr Blick auf etwas in Tallys Gürtel fiel. Plötzlich sprang sie auf, war mit einem Satz bei ihr und preßte ihr drohend die Waffe gegen den Hals, während sie Tally mit der Linken die Waffe aus dem Gürtel riß. Tally verfluchte sich in Gedanken dafür, das nutzlose Ding nicht liegengelassen oder wenigstens gut versteckt zu haben. Sie hatte sie schlichtweg vergessen – ein Fehler, der ihr jetzt möglicherweise das Leben kostete.
»Verdammt noch mal, woher hast du das?« schrie sie.
»Antworte, du Miststück, oder ich schieße dir den Schädel herunter!« Sie versetzte Tally eine schallende Ohrfeige, sprang zurück und richtete den Lauf der Waffe auf ihr linkes Auge. »Rede!« sagte sie wütend.
»Es wäre ziemlich dumm, jetzt abzudrücken, Maya«, sagte eine Stimme hinter ihr. »Aus dieser Entfernung überlebst du es wahrscheinlich selbst nicht.«
Maya fuhr betroffen zusammen, drehte sich halb herum und machte eine kleine erschrockene Bewegung, als sie Lyss erkannte, die zurückgekommen war. Sie wollte etwas sagen, aber Lyss schnitt ihr mit einer herrischen Geste das Wort ab und kam näher.
»Ich dachte, ich hätte befohlen, nicht mit ihr zu reden«, sagte sie lächelnd. »Oder wollte ich es nur und habe es vergessen?«
Lyss schluckte sichtbar. »Ihr... hattet es befohlen, Gebieterin«, sagte sie demütig. »Aber ich habe
»Stimmt das?« fragte sie. Sie lächelte. Ihre Stimme hatte einen fast freundlichen Klang. Aber es war eine Freundlichkeit, hinter der sich unbarmherzige Härte verbarg. Sie lächelte, aber ihre Augen blickten kalt und hart wie Kugeln aus kunstvoll bemaltem Glas.
Tally nickte.
»Woher hast du es, Kind?« fragte Lyss. Sie lächelte noch immer.
»Gefunden«, antwortete Tally.
Lyss schlug sie; so hart, daß ihr Kopf gegen die Wand prallte und der Schmerz farbige Punkte vor ihren Augen flimmern ließ. »Bitte! « keuchte sie. »Es... es ist wahr, Herrin! Ich habe sie gefunden und eingesteckt, ohne... ohne zu wissen, was es ist.«
Lyss runzelte die Stirn, hob die Hand, wie um sie abermals zu schlagen, tat es aber dann nicht, sondern trat mit einem hörbaren Seufzen zurück und schob die schwarze Lederkappe nach hinten. Darunter kamen kurzgeschnittenes rotes Haar und das Gesicht einer vielleicht vierzigjährigen, sehr energisch aussehenden Frau zum Vorschein. Einen Moment lang sah sie Tally noch durchdringend an, dann schüttelte sie den Kopf, seufzte abermals, und fuhr sich müde mit beiden Händen durch das Gesicht. »So geht das nicht«, sagte sie. »Wir sollten uns ausführlicher unterhalten. Aber du mußt mir die Wahrheit sagen.«
»Ich lüge nicht«, antwortete Tally. »Ich sage Euch alles, was Ihr wollt, Herrin, aber...«
»Oh, das ist gar nicht nötig«, unterbrach sie Lyss. »Die Wahrheit reicht schon, Kindchen. Was ist hier geschehen? Und vor allem – wie kommst du hierher?«