Tally runzelte verwundert die Stirn. Wenn sie nun nicht auch noch ihr Orientierungsvermögen verloren hatte, dann führte der Weg nach rechts tiefer in den Turm
Sie hob die Hand, um den Vorhang kurzerhand herunter zu reißen, besann sich dann aber eines Besseren und schob ihn beinahe vorsichtig zur Seite.
Grelles Sonnenlicht blendete sie. Sie hob die Hand, blinzelte, senkte ein wenig den Kopf und trat mit einem raschen Schritt vollends durch den Vorhang hindurch. Der Sturm schlug mit eisigen Krallen auf ihr Gesicht ein und trieb ihr die Tränen in die Augen. Das Rauschen des Windes steigerte sich zu einem ungeheuren Toben und Lärmen. Unter ihren Füßen war plötzlich kein Teppich mehr, sondern wieder harter, ganz sacht vibrierender schwarzer Stein. Wenige Schritte vor ihr erhob sich eine schmiedeeiserne Brüstung. Tally begriff plötzlich, daß sie sich nicht mehr auf festem Boden, sondern auf einem schmalen Balkon befand.
Und darunter gähnte das Nichts.
Vielleicht war es ganz gut, daß ihr die ungewohnte Helligkeit im ersten Moment die Tränen in die Augen trieb, denn so blieb ihr ein wenig Zeit, sich an den unglaublichen Anblick zu gewöhnen. Trotzdem dauerte es lange, bis sie wirklich begriff.
Sie befand sich dicht unterhalb der Turmspitze, und sie konnte dies mit solcher Sicherheit sagen, weil es diese Spitze nicht gab: vielleicht fünfzig Meter über ihr hörte der Turm einfach auf, einer ungleichmäßigen, schrägen Linie folgend, die bewies, daß dieses Ende nicht so gebaut, sondern gewaltsam abgebrochen war. Das grelle Licht der Wüstensonne strömte ungehindert in den Turm, und was es enthüllte, ließ Tallys Atem stocken, und nicht nur im übertragenem, sondern im höchst realen Sinne des Wortes.
Der Turm war leer, und im Grunde war er nicht viel mehr als eine gewaltige, sich nach oben hin verjüngende Röhre, eine Meile hoch und dreimal so tief in die Erde hinabreichend, ehe sie sich im Dunst der Entfernung verlor. Der Balkon, auf dem sie stand, gehörte zu einem ungleichmäßig geformten, steinernen Wulst, der wie ein Schwalbennest an ihre innere Wandung geklebt war und sich auch noch ein Stück nach oben hin fortsetzte, ehe er in einem Wust von zermalmtem, halb geschmolzenem Stein endete.
Tallys Gedanken überschlugen sich. Sie verstand nicht, was sie sah, und noch viel weniger verstand sie, welchen Sinn dieses unglaubliche
Tally schloß für einen Moment die Augen, versuchte an gar nichts zu denken und blickte noch einmal in die Tiefe.
Die Innenwand des Turmes war nicht so glatt, wie sie im ersten Moment geglaubt hatte – es gab zahllose unterschiedlich große und unterschiedlich geformte Auswüchse, und mehrere davon waren mit Balkonen der gleichen Art versehen wie dem, auf dem sie selbst stand. Zwischen ihnen spannten sich schwarze Lavawülste wie steinerne Adern – die Schneckenhausgänge, die in scheinbar willkürlichem Hin und Her nach oben und unten führten und sich hier und da berührten, sich aber nicht direkt zu kreuzen schienen; denn wo sie zusammentrafen, krochen sie wie steinerne Würme übereinander und bildeten manchmal dicke, irgendwie krankhaft wirkende Wülste. Wie Geschwüre auf der Innenseite einer ungeheuerlichen Ader, dachte Tally.
Überhaupt war dies von allem der stärkste Eindruck: obwohl sie den harten Stein unter ihren Füßen sah und stundenlang darübergeschritten war, wirkte nichts hier künstlich, nichts sah aus, als wäre es irgendwie
Die Erkenntnis traf sie wie ein Fausthieb.