Trotzdem hätte sie keine Chance gehabt, währe Hrhon nicht gewesen. Aber der Waga bewegte sich plötzlich mit einer Behendigkeit, die wohl auch der Hornkopf ihm nicht zugetraut hätte – und Tally schon gar nicht. Als das Rieseninsekt an ihm vorbeiraste, fuhr er hoch und herum und ließ seine Faust auf seinen Panzer herunterkrachen. Der Schlag war auf den häßlichen Schädel gezielt, traf aber statt dessen seinen Hinterleib. Diesmal zerbrach der Chitinpanzer des Ungeheuers mit einem hörbaren Knirschen.
Das Ungeheuer stieß einen kläglichen Laut aus, torkelte einen halben Schritt an Tally vorbei und fiel wimmernd zu Boden. Seine gewaltigen Scheren schnappten in hifloser Wut.
Essk packte den Hornkopf und öffnete seinen Panzer an einer Stelle, die nicht dafür vorgesehen war. Aus den schrillen Schreien des Rieseninsektes wurde ein gurgelnder Laut. Eine zähe, gelbe Flüssigkeit quoll aus seinem Maul. Seine Glieder zuckten noch einmal, dann erschlaffte es in den gewaltigen Pranken der Waga. Trotzdem schmetterte Essk ihm die Faust noch zweimal mit aller Kraft zwischen die Augen, ehe sie ihn fallen ließ und mit einem zufriedenen Zischeln zurücktrat und sich umwandte. »Allesss in Ohrdnhung?« fragte sie. Tally begriff im ersten Moment nicht einmal, daß die Worte ihr galten. Erst, als Essk sie fast schüchtern an der Schulter berührte und ihre Frage wiederholte, riß sie ihren Blick von dem verstümmelten Insekt los und nickte. »Mir ist nichts passiert«, sagte sie. Sie wandte sich an Hrhon. »Aber was ist mit dir?«
»Nichtsss«, erwiderte Hrhon. »Esss war nhurrr die Überasssung.«
Tally blickte auf den zermalmten Hornkopf herunter und glaubte ihm. Das Ungeheuer mußte selbst sie um einen guten Meter überragen, wenn es aufrecht stand, und sie wußte, wie stark Insekten waren. Trotzdem konnte man seinen Angriff auf den Waga nur als glatten Selbstmord bezeichnen.
Mit aller Macht drängte sie ihren Widerwillen zurück, näherte sich dem toten Ungeheuer und ging dicht vor ihm in die Hocke. Ein eisiger Schauer lief über ihren Rücken, als sie die entsetzlichen Beißzangen sah, die dicht unter dem dreieckigen Insektenmaul aus seinem Schädel wuchsen. Sie waren kräftig genug, einem erwachsenen Mann den Oberschenkel durchzubeißen. Und als wäre dies allein noch nicht genug, verfügte das Ungeheuer über ein ganzes Arsenal weiterer natürlicher Waffen – angefangen von seinen gewaltigen, dornenbewehrten Sprungbeinen über ein paar Dutzend dolchspitzer Stacheln auf seinem Rücken bis hin zu seinem vorderen Beinpaar, mehrfach untergliedert und mit einem Chitinpanzer versehen, der zu einer Art natürlicher Axt zusammengewachsen war.
»Was, beim Schlund ist das?« murmelte sie.
Sie hatte nicht damit gerechnet, aber sie bekam eine Antwort.
»Eine Beterin«, sagte Essk. »Sssehr ghefährlich. Iss dachte, sssie whären ausssgessstorben.«
»Eine... Beterin?« wiederholte Tally verwirrt. Sie hatte von diesen Tieren
»Du hättest sie nicht töten sollen«, sagte sie. »Sie hätte uns wertvolle Auskünfte geben können.« Aber der Tadel in der Stimme war nicht echt. Wie die beiden Wagas wußte sie nur zu genau, daß Hornköpfe durch absolut nichts auf der Welt zu irgend etwas zu zwingen waren, schon gar nicht durch Gewalt oder Folter, und weder Hrhon noch Essk reagierten auch in irgendeiner Weise auf ihre Worte. Als sie sich nach einer Weile aufrichtete und umdrehte, war Hrhon bereits verschwunden, während seine Gefährtin ein Stück vor und neben der Tür Aufstellung genommen hatte, den Kopf halb in den Panzer zurückgezogen und die Hände kampfbereit erhoben.
Aber es erfolgte kein weiterer Angriff mehr. Die Beterin war die letzte, tödliche Überraschung, die der Turm für sie bereitgehalten hatte – wenigstens für diesen Tag. Hrhon kam schon nach wenigen Augenblicken zurück und machte ein beruhigendes Zeichen mit der Hand. Er bestand nicht einmal mehr darauf, vor ihr herzugehen, als sie durch die Tür trat.