Sie verscheuchte den Gedanken ärgerlich, aber ganz gelang es ihr nicht. Ihre Nervosität stieg. Vorhin, als sie zwischen den beiden Wagas dem gewundenen Gang gefolgt war, hatte sie fast so etwas wie Enttäuschung verspürt – nein, Ernüchterung. Nach zehn Jahren vergeblicher Anstrengungen und Mühe, zehn Jahren immer wieder aufs neue geschöpfter – und immer wieder aufs neue enttäuschter – Hoffnungen, war ihr plötzlich alles so profan erschienen. Das große Geheimnis, dessen Lösung sie ihr Leben gewidmet hatte, sollte nur aus einem leeren Turm bestehen? Aber dieses Gefühl war vergangen, im gleichen Moment, in dem sie die Tote gefunden hatten. Und jetzt begann allmählich etwas in ihr emporzukriechen, das sie auf sehr unangenehme Weise an Furcht erinnerte.
Vielleicht war es nur Erregung, die ganz normale Erregung, endlich am Ziel zu sein; vielleicht hatte sie auch einfach nur die Leistungsfähigkeit ihres Körpers überschätzt, denn schließlich war es noch nicht lange her, daß sie fast gestorben wäre, aber gleich, was es nun war – die Symptome waren eindeutig die von Furcht: ihre Handflächen wurden feucht, ihre Knie begannen ganz leicht zu zittern, und plötzlich hatte sie das Gefühl, von unsichtbaren Augen beobachtet und angestarrt zu werden, aus allen Richtungen zugleich.
Möglicherweise war es auch mehr als nur ein
»Was ist?« fragte sie.
Hrhon versuchte ein Schulterzucken zu imitieren. »Ich weisss nicht«, sagte er. »Irgend etwass ssstimmt nicht...« Er schnüffelte hörbar. »Esss ssstinkt nach Hornköpfen.«
»Das ist kein Wunder«, antwortete Tally nervös.
»Schließlich waren sie hier, oder? Geh weiter.« Hrhon gehorchte. Schwerfällig setzte er sich in Bewegung und machte einen Schritt in die Dunkelheit hinein. Um ein Haar wäre es sein letzter gewesen.
Etwas Großes, Glitzerndes bewegte sich in der Schwärze vor ihm, ein heller, schleifender Laut war zu hören, und plötzlich schien die Dunkelheit selbst zu erwachen und sich mit fünfundzwanzig Armen und Beinen und der gleichen Anzahl mörderisch schnappender Mandibeln auf den Waga zu stürzen.
Der Anprall war so gewaltig, daß Hrhon zu Boden ging. Tally sprang mit einem erschrockenen Keuchen zur Seite, als der Waga fast genau dort niederkrachte, wo sie stand, ein halb erschrockenes, halb wütendes Zischeln ausstoßend und mit beiden Fäusten auf das schwarze Chitinbündel einschlagend, das ihn umklammert hatte. Es war Tally unmöglich, zu sagen,
Möglicherweise wäre es ihm sogar gelungen; groß genug dazu waren die Mandibeln jedenfalls. Aber Hrhon reagierte ganz instinktiv auf die gleiche Weise, auf die sich seine Vorfahren schon vor etlichen hundert Millionen Jahren ihrer Gegner erwehrt hatten – blitzartig zog er Kopf und Glieder in seinen Panzer zurück, so daß die schrecklichen Scheren des Insektes auf stahlhartes Horn krachten statt auf Fleisch. Ein Stück davon brach ab, und der Hornkopf fuhr mit einem wütenden Pfeifen zurück. Eine Sekunde später war Essk über ihm, riß ihn mit einer fast spielerischen Bewegung von ihrem Gefährten herunter und warf ihn kurzerhand gegen die Wand. Der Laut, mit dem sein schwarzglänzender Chitinpanzer gegen den Stein prallte, ließ Tally innerlich erschauern. Aber der Kampf war noch nicht vorüber. Der Hornkopf stürzte zwar, und er blieb auch einen Moment benommen liegen, aber nur, um sich dann jäh in ein wirbelndes Bündel aus Gliedmaßen und tödlichem Horn zu verwandeln, das mit schier unglaublicher Geschwindigkeit wieder auf den Beinen war und angriff.
Und diesmal galt sein Angriff nicht den beiden Wagas, sondern Tally, die er instinktiv als die wichtigste Gegnerin erkannt haben mußte. Tally sprang zurück, beide Hände über den Kopf geschlagen und den Hals eingezogen, so gut sie konnte, denn sie wußte nur zu gut, auf welche Weise Hornköpfe normalerweise angriffen. Ihre Bewegung war sehr schnell; es war nicht das erste Mal, daß sie mit einem Hornkopf unterschiedlicher Meinung war, was ihre Lebenserwartung anging.