Irgendwo gibt es so ein Bosnien, verzeih mir,
Ein Land kalt und karg,
Hungrig und nackt,
Und überdies noch,
Verzeih mir,
Trotzig
Vor Schlaf.
Ich bin es, Aleksandar. Das Gedicht ist von Mak Dizdar. Wenn du es bekommst, ruf an unter: Null-null-vier-neun-eins-sieben-vier-acht-fünf-zwei-sechs-drei-sechs-acht. Ich möchte dir die Geschichte von der Bäckerin erzählen, die in einer Sommernacht ’92 dreißig Säcke Mehl über die Višegrader Straßen, über die Brücke und über die Schande ausstreute und sich danach in ihrem kleinen Laden … –
Was die Wise Guys weise macht, wie hoch der Einsatz auf die eigene Erinnerung sein darf, wer gefunden wird und wer erfunden bleibt
An Kikos richtigen Namen können sich Mesud und Kemo nicht erinnern. Die beiden Männer haben mir stundenlang zwischen Kaffee und Kaffee Legenden und Legendäres über Fußball in Jugoslawien, in Bosnien, in Sarajevo erzählt. Wir sitzen in einem kleinen Wettcafé oberhalb der Altstadt und Mesud sagt: vielleicht hat er einfach nur Kiko geheißen, wie die Brasilianer.
Kiko – die Neun, Kiko – das Kopfballungeheuer, Kiko – der Eisenschädel von der weichen Drina hatte in der letzten Halbsaison vor dem Krieg dreißig Tore gemacht, davon zwanzig mit dem Kopf, drei mit rechts, und die restlichen sieben alle mit dem schwächeren linken und alle in seinem letzten Spiel, nur einige Tage bevor in Sarajevo die ersten Schüsse fielen.
Ich bin gestern in Sarajevo gelandet, habe mir ein Zimmer gemietet, drei Tage für dreißig Euro bei einer jungen Frau mit drei Töchtern. Ich fuhr die Endhaltestellen der Straßenbahn ab, hinaus zu den grauen Türmen der Plattenbauten, spazierte durch die Altstadt, mit Händen hinter dem Rücken verschränkt, Blick gegen den Boden gerichtet, als sei ich in Gedanken und gehöre somit hierher, es gibt keine nachdenklichen Touristen. Ich wollte wissen, worüber man in der Stadt spricht, traute mich aber nicht nachzufragen. Ich hörte zu. Ich wollte wissen, wie man auf die Dächer gelangt, ich ging Treppenhäuser riechen, bekam in der Bibliothek eine Nummer, die zu einem Tisch mit Leselampe gehörte. Ich sah Studenten beim Lernen zu. Am Abend wurde »Orpheus und Eurydike« aufgeführt, ich wollte wissen, was die Unterwelt sein wird, in die der Sohn des Flussgottes steigt, um das schon Verlorene noch einmal zu verlieren, aber ich bekam keine Eintrittskarte, es freute mich, dass Dinge ausverkauft waren. Mich freute alles, was nicht nach Ruine, sondern nach Reichtum aussah oder nach Sorglosigkeit, obwohl ich mir einredete, sorglos sein geht doch gar nicht. Ich stieg auf ein Dach. Ich hatte das Gefühl, etwas aufgegeben zu haben, sah auf die Stadt und wusste nicht, was es war. Ich wollte nicht tanzen, ich wollte sehen, wie man tanzte. Vor dem Club gab es keine Schlange, ich wartete trotzdem und kaufte mir dann doch bloß die Süddeutsche von gestern in einem Kiosk in der Nähe. Auf dem Bett in meinem Zimmer fand ich einen Zettel von der Vermieterin: Pita ist im Ofen, falls du Hunger hast. Ich hatte Hunger, die Fingerschattenvögel flogen wieder über bosnische Wände, ich schlief drei Stunden.
Am zweiten Tag kochte ich Kaffee für die Vermieterin und fragte sie nach Asija. Ich fragte überall nach Asija und hielt Ausschau nach Asijas hellem Haar. In den Straßenbahnen, an den Endhaltestellen, zwischen den Plattenbauten und in den Cafés der Altstadt. Ich las Namensschilder, stieg auf Dächer und suchte die Gegend ab. In jedes Gespräch streute ich ihren Namen, versuchte, Beamte und Notare von der Dringlichkeit meiner Suche zu überzeugen, bekam Einblick in Namenregister, in Flüchtlingsstatistiken, in Opferlisten, man sagte mir, ich käme reichlich spät, ich bat höflich, es bei konstruktiven Kommentaren zu belassen. In der Musikhochschule blätterte ich heimlich die Mitgliederkartei der Bibliothek durch, immer noch überzeugt, dass Asija Geigerin ist. In der Videothek durfte ich die Kundendaten nicht sehen, im Sonnenstudio schon. Unterwegs zwischen den Orten las ich das Telefonbuch. Acht Asijas rief ich an, bei sechs entschuldigte ich mich für die Störung, zwei waren nicht zu Hause, was Anlass zur Hoffnung gab.
Die Straße gibt es in Sarajevo nicht, sagte der Taxi-Fahrer, als ich ihm Asijas Adresse nannte, die mir Oma Katarina vor Jahren gegeben hatte, und ließ sich das auf mein Drängen hin von der Zentrale bestätigen. Ich ließ mich in eine Straße fahren, die ähnlich klang wie die auf meinem Zettel, klingelte an fünf Türen und las mir alle Klingelschilder durch. Der Himmel war bewölkt, ich gelangte an das Ende der Straße und sah mich um. Kinder schrieben mit bunter Kreide ihre Namen auf den Asphalt. Ich verlasse Sarajevo nicht, bevor ich etwas gefunden habe.