Schön und ihr Onkel mit dem gezwirbelten Schnurrbart essen mit uns im Keller. Ibrahim wartet, bis Schön mit dem Kopf auf seinem Schoß eingeschlafen ist und erzählt leise von ihrer Flucht. Entkräftet und hungrig seien er und seine Nichte auf die anderen Schutzlinge gestoßen. Die Schutzlinge fütterten sie und betteten das kränkliche Schön in einem zur Hälfte abgeschnittenen Lada, der von zwei Eseln gezogen wurde. Wir sind die Letzten aus unserem Dorf, Ibrahim überlegt kurz, wir sind die Letzten aus unserem Nichts. Unsere Häuser gibt es nicht mehr. Ich erzähle euch alles, damit ihr wisst, mit wem wir es zu tun haben, aber erst will ich schlafen. Und dann, gute Leute, dann will ich mich rasieren, der Bart ist mir voll Erinnerung an die schlimmste Nacht. Ibrahim streichelt Schön über das Haar. Die Kleine hat alles verloren, sagt er, alles und jeden.
Mehr muss er nicht sagen. Ich lasse Schön nicht aus den Augen, ich lasse nicht zu, dass ihr jemals wieder etwas zustößt. Schön spricht nicht. Schön kann so ruhig sitzen, dass sie unsichtbar wird. Wenn Schön nicht in meiner Nähe ist, suche ich sie. Schön klammert sich an eine abgewetzte Tasche. Am Taschengurt baumelt ein schmutziger, zerrupfter Teddybär.
Ich heiße Aleksandar. Ich male unfertige Bilder, schau, das sind Bücher ohne Staub, das ist Jurij Gagarin ohne Neil Armstrong, hier ist ein Hund ohne Halsband. Das ist Nena Fatimas ungeflochtener Zopf. Ich heiße Aleksandar, und immer fehlt etwas nicht so Schönes. Findest du Jungs mit großen Ohren sympathisch?
Ich bin Asija. Sie haben Mama und Papa mitgenommen. Mein Name hat eine Bedeutung. Deine Bilder sind gemein.
Wo sind Asijas Eltern?
Kenne ich einen der Soldaten da draußen? Ist Miki vielleicht bei ihnen?
Was braucht man? Das Taschenmesser, die fünfzig Mark und etwas Glück, ist das alles?
Wie schwer wiegen Erinnerungen in einem Bart?
»5:09 Dienstag, 12. Februar 2002.« Ich habe alle Višegrader Straßennamen notiert, alle Kinderspiele, ich habe eine Liste von Gegenständen aufgestellt, die es in der Schule gab, mitsamt den fünfhundert Anspitzern, die Edin und ich wie Hänsel und Gretel über den Bombenschutt verteilt hatten. Ich will die Vergangenheitsschablonen nachzeichnen. Im Schlafzimmer meiner Großmutter liegt ein Karton mit neunundneunzig unfertigen Bildern. Ich fahre nach Hause und male jedes einzelne zu Ende.
Von dreihundertdreißig zufällig gewählten Nummern in Sarajevo ist bei ungefähr jeder fünfzehnten ein Anrufbeantworter dran
Guten Abend. Mein Name ist Aleksandar Krsmanović. Ich rufe Sie an, weil ich versuche, etwas über eine Kindheitsfreundin herauszufinden, die während des Bürgerkriegs aus Višegrad nach Sarajevo geflohen ist. Ihr Name ist Asija. Ich bin alle anderen Wege gegangen, Ämter, Internet – ohne Ergebnis. Ich nenne Ihnen ihren Nachnamen nicht, weil ich mir leider nicht sicher bin, ob er stimmt. Bitte melden Sie sich bei mir unter: Null-null-vier-neun-eins-sieben-vier-achtfünf-zwei-sechs-drei-sechs-acht, wenn Sie irgendetwas über jemanden mit diesem Namen wissen. Asija ist heute Anfang zwanzig und hatte damals sehr helles, blondes Haar. Vielen Dank.
Guten Abend. Mein Name ist Aleksandar Krsmanović. Ich rufe Sie an, weil ich versuche, etwas über eine Kindheitsfreundin herauszufinden, die während des Bürgerkriegs aus Višegrad nach Sarajevo geflohen ist. Ihr Name ist Asija. Ich bin alle anderen Wege gegangen, Ämter, Internet – ohne Ergebnis. Ich nenne Ihnen ihren Nachnamen nicht, weil ich mir leider nicht sicher bin, ob er stimmt. Bitte melden Sie sich bei mir unter: Null-null-vier-neun-eins-sieben-vier-acht-fünf-zwei-sechs-drei-sechs-acht, wenn Sie irgendetwas über jemanden mit diesem Namen wissen. Asija ist heute Anfang zwanzig und hatte damals sehr helles, blondes Haar. Vielen Dank.
Hallo? Herr Sutijan? Ich hoffe, ich spreche Ihren Namen richtig aus – ich habe Ihre Nummer zufällig gewählt, weil ich so enttäuscht bin von Absichten. Ich heiße Aleksandar und rufe aus Deutschland an, wo ich seit unserem Krieg lebe. Gibt es in Ihrem Bekanntenkreis eine Frau namens Asija? Es ist kein häufiger Name, vielleicht haben Sie ihn mal gehört und können mir einen Hinweis geben, wo ich seine Trägerin finde. Der Name bedeutet Friedensstifterin, ich suche meine Asija und meinen Frieden finde ich nicht, solange ich nicht weiß, was mit meiner Asija ist. Das klingt kitschig und betrunken, und das ist es auch. Meine Nummer, Herr Sutijan, falls Ihnen irgendetwas einfällt: Null-null-vier-neun-eins-sieben-vieracht-fünf-zwei-sechs-drei-sechs-acht.
Hallo, Asija, hier spricht Aleksandar. Du bist nicht da. Ich habe gerade einen Flug nach Sarajevo gebucht. Ich komme Montag an. Würde mich freuen, wenn wir uns treffen könnten. Du erreichst mich unter: Null-null-vier-neun-eins-sieben-vier-acht-fünf-zwei-sechs-drei-sechs-acht.