„Wo ist er aber?“ wiederholte Timm beharrlich. „Wo ist Kreschim ir j etzt?“
„Es war zufällig ein Patrouillenboot von der Küste in unserer Nähe. Das hat ihn an Land gebracht. Hast du nicht gemerkt, daß die Maschinen stoppten?“
„Nein“, sagte Timm beklommen. Und mit ruhiger Stimme fügte er hinzu: „Kreschimir ist nicht krank. Das alles hat der Baron veranstaltet. Ich sah seine Augen durch das Bullauge.“
„Du hast im Bullauge die Augen des Barons gesehen?“ Jonny lachte. „Junge, du phantasierst! Komm, zieh dich aus, nimm die Decke da und leg dich auf die Polsterbank. Hier oben bei mir hast du bestimmt keine schlechten Träume!“
Im warmen Steuerhaus neben diesem besonnenen gutmütigen Riesen kam es Timm beinahe selbst so vor, als ob er nur phantasiert habe. Aber in diesem Augenblick erinnerte er sich wieder an die Radionachricht über das Verschwinden des Barons nach Rio de Janeiro, und er sah sich selbst wieder im Spiegel über dem Waschbecken: zitternd und mit grinsendem Gesicht. Und er entschloß sich, dem Baron alles zuzutrauen und ihn, soweit er es vermochte, nie mehr zu fürchten. Denn zum Glück hatte Timm den Baron auch schwach gesehen.
Der Junge legte sich nun schweigend auf die Polsterbank, die hin und her und auf und ab schwankte, weil die Bewegungen des Schiffes hier oben noch heftiger waren als unten in der Kajüte.
Die durcheinanderlaufenden Gedanken und ein merkwürdiges Gefühl im Magen ließen Timm nicht wieder einschlafen. So lag er Stunde um Stunde wach, während Jonny ruhig am Steuerruder stand und manchmal eine Zigarette rauchte. Darüber ließ der Sturm sehr allmählich nach.
Timm brütete in diesen Stunden über einer außergewöhnlichen Wette. Sie sollte so ungeheuerlich sein, daß er sie unbedingt verlieren mußte. Der Baron hatte mit Timms Angst gespielt - nun sollte er selber Angst bekommen. Aber so sehr der Junge auch grübelte: Keine Wette schien den teuflischen Fähigkeiten des Barons gewachsen zu sein. Gesetzt, er wettete, daß eine Haselnuß größer sei als eine Kokosnuß: Wer würde auf eine so blödsinnige Wette eingehen? Und wer weiß, vielleicht würde Lefuet einen Landstrich aufstöbern, in dem die Haselnüsse tatsächlich größer wären als die Kokosnüsse. Timm verwarf die Wette wieder wie viele andere in dieser Nacht. Das Erlebnis mit Herrn Rickert in der Straßenbahn fiel dem Jungen immer wieder zur rechten Zeit ein.
Aber wie wär’s, dachte er plötzlich, wenn man keine zerrissene Oberleitung vorschieben kann? Wie, wenn so ein handfestes, eisernes Möbel wie die Straßenbahn plötzlich die Schienen verlassen und fliegen muß? Eine Straßenbahn ist keine Lerche. Und ein Zauberer, trotz all seiner unheimlichen Fähigkeiten, ist auch Lefuet nicht!
Timm glaubte, die Achillesferse des Barons entdeckt zu haben. Er richtete sich auf den Ellenbogen auf und rief: „Steuermann, wissen Sie schon, daß es in Genua fliegende Straßenbahnen gibt?“
„Leg dich hin und schlaf!“ sagte Jonny ohne besondere Überraschung. „Du phantasierst schon wieder.“
„Entschuldigen Sie, Steuermann, aber diesmal bin ich hellwach. Ich weiß ganz bestimmt, daß es in Genua fliegende Straßenbahnen gibt. Ich wette mit Ihnen um eine Flasche Rum!“
„Hokuspokus!“ sagte Jonny. „Außerdem frag’ ich mich, wovon du eine Flasche Rum bezahlen willst.“
„Ich hab’ eine in meinem Seesack!“ log Timm. „Also wetten wir nun oder nicht?“
Jonny drehte sich um und sagte: „Und wenn du um eine Million wetten würdest: Ich glaub’s trotzdem nicht. Dafür kenne ich zwei Dinge viel zu gut: Genua und die Straßenbahnen! “
„Dann können Sie ja beruhigt wetten. Eine Flasche Rum ist doch für einen Steuermann ein Klacks!“
„Gibst du mir dein Ehrenwort, daß du dich wieder hinlegst und die Augen zumachst, wenn ich mit dir wette?“
„Mein Ehrenwort!“ rief Timm.
Da gab der Steuermann dem Jungen die Hand und sagte: „Wenn es in Genua...“ Er stockte, weil etwas Hartes ans Fenster des Steuerhauses flog. Es schien aber nichts von Bedeutung zu sein. So wiederholte Jonny: „Wenn ich in Genua eine fliegende Straßenbahn sehe, habe ich die Wette verloren, und du kriegst eine Flasche Rum. Sehe ich keine, dann gehört die Flasche in deinem Seesack mir. So, und nun leg dich gefälligst wieder hin! In drei Stunden beginnt dein Dienst.“
Diesmal schlief Timm wirklich ein. Und im Traum hörte er sich selber lachen. Aber in das Gelächter schrillte das blecherne Bimmeln einer Straßenbahn, die über seinem Kopf durch den Himmel fuhr. Als der Steuermann ihn bei Anbruch des Tages weckte, hatte der Junge immer noch das Geläute in den Ohren, und das ängstigte ihn.
Timm fürchtete sich vor Genua.
Timm fürchtete sich vor Genua; aber zugleich sehnte er die Stadt herbei.