„Ja, Timm, da hatte ich zum erstenmal eigenes Geld, viel Geld, wie mir schien. Ganze sieben Dinar! Und weißt du, was ich mir dafür gekauft habe? Kein weißes Brot, obwohl ich Hunger darauf hatte, sondern ein Stück Torte! Weißt du, so ein Tortenstück mit viel Krem und mit Kirschen darauf und mit einer halben Walnuß in der Mitte. Das war die Torte, von der die Mädchen im Dorf erzählten, wenn sie am Meer gewesen waren.
All mein Geld mußte ich hingeben für dieses eine Stück Torte. Ich hab’s dann irgendwo hinter einem Bretterstapel auf der Mole verzehrt, Bissen für Bissen, und dabei habe ich gedacht: Das essen die Engel im Himmel nun alle Tage.
Hinterher hab ich gekotzt. Entschuldige das Wort! Aber so war’s! Mein Arme-Junge-Magen war dafür nicht gebaut. Ich spie wie ein Reiher. Und als ich damit fertig war und von der Mole zurück ans Land ging, stand wieder das Auto mit dem karierten Herrn da.“
Kreschimir schwieg, und Timm dachte an einen kleinen Jungen in einer Gasse, die nach Pfeffer, Kümmel und Anis roch.
Dann erzählte der Steward weiter: wie der karierte Herr nun öfter mit Granatäpfeln ins Dorf gekommen war, wie er eines Sonntags mit den Eltern gesprochen hatte, wie er den Jungen auf einem seiner Schiffe als Steward untergebracht, wie er ihn später manchmal mit auf Reisen und vor allem zu Pferderennen mitgenommen hatte, wie Kreschimir durch leichtsinnige Wetten bei dem karierten Herrn in Schulden geraten war und wie er ihm am Ende sein schönstes Erbteil verkauft hatte, seine Augen.
„Nun habe ich sie wieder!“ schloß Kreschimir. „Und du sollst dein Lachen wiederhaben, so wahr ich Kreschimir heiße. Gute Nacht!“
Timm hatte einen Kloß in der Kehle. Es klang sehr dünn, als er sagte: „Gute Nacht, Kreschimir! Vielen Dank!“
Die Erzählung Kreschimirs hatte Timm erregt. Überdies war das Meer in dieser Nacht heftig bewegt. So schlief der Junge unruhig und warf sich von einer Seite auf die andere.
Mitten in diesen dünnen Schlaf hinein dröhnte ein Donnerschlag. Wenig später zuckte ein unheimlich heller Blitz durch die Lider des Schlafenden, und neuer schrecklicher Donner dröhnte ihm in die schlaftauben Ohren.
Timm fuhr mit einem Schrei auf. Ihm war, als habe er durch den Donner sein eigenes Lachen gehört. Er riß die Augen auf, und sein Blick fiel auf das Bullauge, durch das zwei wasserblaue Augen in die Kajüte starrten, dem Jungen mitten ins Gesicht.
Furcht und Entsetzen drückten ihm die Lider wieder zu, der Schweiß brach ihm aus, und er war unfähig, sich zu bewegen. So hockte er, vomübergekrümmt, eine halbe Ewigkeit, bis er es endlich, endlich wagte, die Augen wieder zu öffnen und ganz leise nach Kreschimir zu rufen.
Der Steward gab keine Antwort. Draußen, hinter einer dünnen Wand aus Eisen, schäumte das Meer und schlug in beinahe regelmäßigen Abständen donnernd dagegen. Timm wagte nicht wieder, zum Bullauge hinüberzuschauen.
Er rief lauter nach Kreschimir. Aber noch immer kam keine Antwort.
Da fing er so laut zu schreien an, daß seine eigene Stimme ihn ängstigte.
„Kreschimir!“ Es war fast keine menschliche Stimme mehr, die da schrie. Aber keine Antwort kam auf diesen Schrei.
Timm schloß die Augen wieder, um nicht das Bullauge ansehen zu müssen, und tastete nach der kleinen Lampenschnur über seinem Kopf. Als er sie zwischen den Fingern fühlte, riß er sie vor Erregung ab. Aber das Licht brannte. Und der Junge machte die Augen auf.
Mit der Dunkelheit zogen sich auch die Ängste in die Ecken zurück. Timm beugte sich nun über den Bettrand nach unten, um nach Kreschimir zu sehen. Aber Kreschimirs Bett war leer.
Da kroch aus den Winkeln der leeren Kajüte wieder die Angst auf ihn zu. Der Junge fing am ganzen Leibe zu zittern an, sah sich im Spiegel über dem Waschbecken selbst zittern und erschrak vor dem grinsenden Gesicht, das ihn anstierte, seinem eigenen Gesicht.
Seltsamerweise brachte der Anblick seines Spiegelbildes ihn in eine Art wütender Bewegung. Er sprang aus dem Bett und fuhr wie wild in seine Kleider. Es war, als seien die Ängste jetzt in sein Spiegelbild gebannt und er selbst habe die Freiheit zu tun und zu lassen, was er wolle. So fand er auch den Mut, die Kajüte zu verlassen und auf den Gang hinauszulaufen. Er tastete sich durch das schwankende Schiff zur eisernen Leiter vor und erkletterte sie. Oben durchnäßte eine überschwappende Welle ihn bis auf die Haut. Aber er hastete an Tauen und Stangen weiter, kletterte mit wütender Zähigkeit hinauf aufs Bootsdeck und trat endlich in das qualmigwarme Steuerhaus ein, das durch eine Funzel aus dickem Glas matt erhellt war.
Da stand Jonny, der Bär aus Hamburg, und sah den Jungen mit ruhigem Verwundern an.
„Was willst denn du bei dem Wetter hier oben?“
„Steuermann, wo ist Kreschimir?“ Timm schrie die Frage fast, um das Dröhnen einer Woge zu übertönen, die sich an der Bordwand brach.
„Kreschimir ist krank, mein Junge. Aber mach dir keine Sorgen. Es ist nur der Blinddarm, und daran stirbt man heute nicht mehr!“