»Ein tödlicher. Ich bin gekommen, um Otto zu warnen und um mit ihm zu sprechen.«
Herr Kretzschmar besaß einen schönen, goldenen Kugelschreiber. Er zog ihn bedachtsam aus einer Innentasche, ließ die Spitze herausspringen und zeichnete, immer noch stirnrunzelnd, einen perfekten Kreis auf die Schreibunterlage vor ihm. Dann setzte er obenauf ein Kreuz, zog einen Strich durch sein Werk, machte »ts, ts«, sagte »schade«, und nachdem er dies alles getan hatte, richtete er sich auf und sprach in knappem Ton in einen Apparat: »Ich bin für niemanden zu sprechen.« Murmelnd bestätigte die Stimme des grauen Empfangschefs die Anweisung.
»Sie sagten, Herr Leipzig sei ein alter Bekannter Ihres Stammhauses?« faßte Herr Kretzschmar zusammen.
»Wie Sie selbst auch, glaube ich, Herr Kretzschmar.«
»Bitte, erklären Sie das näher,« sagte Herr Kretzschmar und drehte den Kugelschreiber langsam in beiden Händen, als wolle er die Qualität des Goldes prüfen.
»Wir sprechen natürlich von alten Geschichten«, sagte Smiley beschwichtigend.
»So habe ich es verstanden.«
»Nach seiner Flucht aus Rußland kam Herr Leipzig nach Schleswig-Holstein«, sagte Smiley. »Die Organisation, die seine Flucht ermöglicht hatte, war in Paris ansässig, aber als Balte zog er es vor, in Norddeutschland zu leben. Deutschland war immer noch besetzt, und es war schwierig für ihn, sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen.«
»Für jeden«, korrigierte ihn Herr Kretzschmar. »Für jeden war es schwierig. Die Zeiten waren phantastisch hart. Die Jugend von heute hat keine Ahnung.«
»Nicht die geringste«, bestätigte Smiley. »Und sie waren besonders hart für Flüchtlinge. Ob sie nun aus Estland oder aus Sachsen kamen, das Leben war hart für sie.«
»Absolut richtig. Die Flüchtlinge hatten es am schwersten. Bitte, fahren Sie fort.«
»Damals blühte der Handel mit Informationen. Aller Art von Informationen. Militärischer, industrieller, politischer, wirtschaftlicher. Die Siegermächte waren bereit, hohe Summen für Material zu bezahlen, das sie jeweils über die anderen aufklärte. Mein Stammhaus war in diesem Handel tätig und unterhielt hier einen Vertreter, dessen Aufgabe darin bestand, derartiges Material zu sammeln und es nach London zu übermitteln. Herr Leipzig und sein Partner wurden gelegentlich von uns mit Aufträgen betraut. Als freie Mitarbeiter.«
Trotz der Nachricht vom tödlichen Unfall des Generals huschte ein schnelles und unerwartetes Lächeln wie eine Brise über Herrn Kretzschmars Züge:
»Freie Mitarbeiter«, sagte er, als habe der Ausdruck es ihm besonders angetan. »Frei«, wiederholte er. »Genau das waren wir.«
»Derartige Verbindungen sind naturgemäß nicht auf Dauer angelegt«, fuhr Smiley fort. »Doch Herr Leipzig hatte als Balte gewisse Ziele im Auge und korrespondierte weiterhin noch längere Zeit mit meiner Firma über Mittelsmänner in Paris«, er hielt inne, »vornehmlich über einen General. Der General mußte vor ein paar Jahren aufgrund eines Streits nach London übersiedeln, doch Otto blieb mit ihm in Kontakt. Und der General seinerseits spielte weiter den Mittelsmann.«
»Bis zu seinem Unfall«, warf Herr Kretzschmar ein.
»Ganz recht.«
»War es ein Verkehrsunfall? Ein alter Mann - ein bißchen unachtsam?«
»Erschossen«, sagte Smiley und sah,
wie Herrn Kretzschmars Gesicht sich wieder unwillig verzog. »Er ist erschossen
»Natürlich«, sagte Herr Kretzschmar und bot Smiley eine Zigarette an. Smiley lehnte ab, also zündete er sich selbst eine an, tat ein paar Züge und drückte sie aus. Seine blasse Gesichtsfarbe war um eine Schattierung bleicher geworden.
»Sind Sie mit Otto zusammengekommen? Kennen Sie ihn?« fragte Herr Kretzschmar und machte auf leichten Plauderton.
»Ich bin einmal mit ihm zusammengekommen.«
»Wo?«
»Ich bin nicht befugt, darüber zu sprechen.«
Herr Kretzschmar runzelte die Stirne, doch eher ratlos als mißbilligend.
»Sagen Sie, bitte. Wenn Ihr Stammhaus - na schön, London -Herrn Leipzig direkt erreichen wollte, wie ging es da vor?« fragte Herr Kretzschmar.
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»Und wenn es sehr dringend war?«
»Über Sie.«
»Sind Sie von der Polizei?« fragte Herr Kretzschmar ruhig.
»Scotland Yard?«
»Nein.« Smiley starrte Herrn Kretzschmar an, und Herr Kretzschmar starrte zurück.
»Haben Sie etwas für mich mitgebracht?« fragte Herr Kretzschmar. Smiley war ratlos und antwortete nicht sofort. »So etwas wie einen Empfehlungsbrief? Eine Karte, zum Beispiel?«
»Nein.«
»Nichts vorzuzeigen? Sehr schade.«
»Vielleicht werde ich Ihre Frage besser verstehen, wenn ich ihn gesehen habe.«
»Aber das Foto, das haben Sie doch offensichtlich gesehen? Haben Sie es zufällig bei sich?«