Smiley kam in Hamburg Mitte des Vormittags an und fuhr mit dem Flughafenbus ins Stadtzentrum. Es war neblig und sehr kalt. Am Bahnhofsplatz fand er nach einigen >Bedauere, ausgebucht< ein schmalbrüstiges Hotel mit einem Lift, den, laut Vorschrift, nur jeweils drei Personen benutzen durften. Er trug sich als Standfast ein und ging dann zu einer Autovermietung, wo er sich einen kleinen Opel aussuchte, den er in einer mit gedämpfter Beethovenmusik berieselten Tiefgarage parkte. Der Wagen war seine Hintertüre. Er wußte nicht, ob er ihn benötigen würde, aber es war nötig, daß er da war. Er machte sich wieder zu Fuß auf den Weg in Richtung Alster, wobei er alles mit besonderer Schärfe wahrnahm: Den irren Verkehr und die Spielzeugläden für Millionärskinder. Der Stadtlärm sprang ihn wie ein Sturm an und ließ ihn die Kälte vergessen. Deutschland war seine zweite Natur, ja seine zweite Seele. In seiner Jugend war die deutsche Literatur seine Leidenschaft und sein Studienfach gewesen. Er konnte die deutsche Sprache anlegen wie eine Uniform und sich kühn darin bewegen. Und doch hatte er das Gefühl, daß jeder Schritt, den er tat, Gefahr bedeutete, denn Smiley hatte hier als junger Mann den halben Krieg in der einsamen Angst des Spions verbracht, und das Bewußtsein, in Feindesland zu sein, war unausrottbar in ihm verwurzelt. In seiner Kindheit hatte er Hamburg als eine reiche und elegante Hafenstadt kennengelernt, die ihre flatterhafte Seele unter einem Mantel von Englischtümelei verbarg; im Erwachsenenalter, als eine Stadt, die durch Luftangriffe von tausend Flugzeugen in mittelalterliche Finsternis zurückgebombt wurde. Er hatte sie in den ersten Friedensjahren gesehen, eine endlose, schwelende Ruinenstätte, in der die Überlebenden den Schutt wie Felder bearbeiteten. Und er sah sie heute, auf der Flucht in die Anonymität von Konservenmusik, Betontürmen und getöntem Glas.
An der Alster ging er den anmutigen Fußweg hinunter zum Landungssteg, wo Willem das Schiff bestiegen hatte. An Wochentagen fuhr, wie er feststellte, das erste Boot um 7 Uhr 10, das letzte um 20 Uhr 15, und Willem war an einem Wochentag hiergewesen. Das nächste Schiff war in fünfzehn Minuten fällig. Während er darauf wartete, beobachtete er die Ruderboote und die roten Eichhörnchen, genau wie Willem dies getan hatte, und als das Schiff ankam, setzte er sich ins Heck, wo Willem gesessen hatte, im Freien unter dem Schutzdach. Seine Mitpassagiere waren eine Horde Schulkinder und drei Nonnen. Er kniff vor der blendenden Helle die Augen halb zu und lauschte dem Geschnatter der Kinder. Auf halber Strecke stand er auf, schritt durch die Kabinen zum vorderen Fenster und sah hinaus, offensichtlich um etwas zu überprüfen, schaute auf die Uhr, kehrte dann wieder zu seinem Platz zurück und blieb sitzen bis zum Jungfernstieg, wo er an Land ging.
Willems Geschichte stimmte. Smiley hatte es nicht anders erwartet, aber in einer Welt beständigen Zweifels war ein zusätzlicher Beweis immer willkommen.
Er aß zu Mittag, ging dann zur Hauptpost und studierte eine Stunde lang alte Telefonbücher, wie damals die Ostrakowa in Paris, wenn auch aus anderen Gründen. Nach Beendigung seiner Nachforschungen ließ er sich zufrieden in der Halle des Hotels Vier Jahreszeiten nieder und las Zeitungen bis zum Abend.
In einem Hamburger Vergnügungsführer war das >Blue Diamond< nicht unter Nachtklubs angeführt, sondern unter >L'amour< und mit drei Sternen ausgezeichnet wegen seiner Exklusivität und seiner hohen Preise. Es lag in Sankt Pauli, doch diskret abseits vom Touristenrummel, in einer leicht abfallenden, gepflasterten Straße, die dunkel war und nach Fisch roch. Smiley drückte auf die Klingel, und ein elektrischer Türöffner summte. Er trat ein und stand unmittelbar in einem gepflegten Vorraum, voll grauer Apparaturen, die von einem smarten jungen Mann in grauem Anzug bedient wurden. An der Wand drehten sich langsam graue Tonbandspulen, doch die Musik, die sie spielten, war anderswo zu hören. Am Empfangspult flackerte und tickte eine mit den letzten Raffinessen ausgestattete Telefonanlage.
»Ich möchte einige Zeit hier verbringen«, sagte er.
Von hier aus haben sie auf meinen Telefonanruf geantwortet, dachte er, als ich Wladimirs Hamburger Gesprächspartner zu erreichen suchte.