Und sie sah auch genug. Der gigantische Schatten, der den Himmel verdunkelt hatte, verschwand wieder, aber nur, um gleich darauf von einem zweiten, womöglich noch größeren, finsteren Etwas abgelöst zu werden, das den Himmel und die Sterne auslöschte und sich tiefer und tiefer auf die Turmspitze herabsenkte, bis Tally den Eindruck hatte, eine Glocke aus geronnener Schwärze habe sich über die Wüste gestülpt. Rote, im Verhältnis zur Körpergröße des Tieres lächerlich kleine Augen blinzelten zu ihr herab; die drei Reiter, die im Nacken des fliegenden Ungeheuers hockten, sahen aus wie Spielzeuge. Der Drache sank tiefer, schlug einmal fast gemächlich mit seinen gigantischen Flügeln und gewann noch einmal kurz an Höhe, ehe er vollends auf den Turm herabsank.
Das ganze, ungeheuerliche Gebäude erbebte, als sich das Monstrum auf seiner Spitze niederließ, halb aufgerichtet, die Schwingen wie eine zu groß geratene Fledermaus an den Körper gefaltet und den Hals fast grotesk vorgebeugt, damit seine Reiter nicht den Halt verloren und sich eine Meile tiefer die eigenen Hälse brachen. Es war ungeheuerlich. Tally sah nur Schatten, schwarze Umrisse, gegen das Samtblau des Himmels, aber vielleicht machte gerade das den Anblick nur um so eindrucksvoller. Nach dem ersten Drachen landete der zweite, trotz seiner jede Vorstellung sprengenden Größe fast graziös und kurz darauf – sie sah es nicht, aber sie spürte, wie der Turm unter ihren Füßen ein drittes Mal ganz sacht erzitterte – das letzte Tier.
Ein schwer in Worte zu fassendes Gefühl von Ehrfurcht ergriff von Tally Besitz, trotz ihres Zornes und all des aufgestauten Hasses von mehr als anderthalb Jahrzehnten. Es war das erste Mal, daß sie die Drachen aus solcher Nähe sah, und trotz allem war alles, was sie empfand, Bewunderung, ein Schaudern angesichts der ungeheuerlichen Macht, die diese Tiere ausstrahlten, aber auch ihrer Schönheit und Grazie.
Tally hatte viele große Tiere gesehen – und einige davon waren wirklich
Nacheinander begannen die Reiter abzusteigen. Ihre Bewegungen wirkten grotesk; fast wie die von Ameisen, die über den Rücken eines Giganten krabbelten, und trotz der großen Entfernung konnte Tally die Unsicherheit und Vorsicht erkennen, die ihnen innewohnte. Und dann geschah etwas, womit Tally fast gerechnet hatte, und das sie doch zutiefst erschreckte: kaum waren die Reiter vom Rücken des ersten Drachen heruntergestiegen, spreizte das Ungeheuer die Flügel, ließ sich nach vorne kippen – und stürzte senkrecht in den Turm hinab; ein schwarzer Koloß, dessen nur halb aufgespannten Schwingen um ein Haar die Wände berührten.
Der Sturmwind, der dem Koloß hinterherfauchte, trieb Tally zurück ins Zimmer. Sie taumelte ein paar Schritte zurück, hob schützend die Hände vors Gesicht und krümmte sich, als der schwere Samtvorhang wie eine übergroße Hand nach ihr schlug. Dann kam sie endlich auf die Idee, zur Seite zu treten – und keinen Moment zu früh, wie sich zeigte, denn kaum war der Luftsog ein wenig schwächer geworden, stürzte der zweite Drache in den Turm hinab, jetzt nicht mehr als eine Faust aus Schwärze, die vor dem Balkon vorbeirauschte.
Voller Schrecken dachte sie an Hrhon und Essk, die dem heulenden Luftsog schutzlos ausgeliefert waren. Aber sie wagte es nicht, noch einmal hinauszugehen und nach den beiden Wagas zu sehen.
Statt dessen drehte sie sich herum, ging nach kurzem Überlegen zu dem verwüsteten Bett und kuschelte sich an sein Kopfende. Sie zog die Knie an den Körper, zog ein Stück der zerfetzten Decke über die Beine und legte das Schwert griffbereit neben sich, die Hand auf der ledernen Scheide. Den Kopf lehnte sie in einer bewußt unbequemen Stellung an den Bettpfosten; ganz die Haltung eines Menschen, der sich nur ein wenig hatte ausruhen wollen und dabei unversehens eingeschlafen war. Sie wartete. Und sie betete zu allen Göttern, die sie kannte – und vorsichtshalber auch gleich zu allen, von denen sie noch nie gehört hatte –, daß ihre Rechnung aufgehen und die Drachenreiter sie nicht gleich töten, sondern erst mit ihr reden würden.