Aethe wurde älter und sein Ruhm wuchs unaufhaltsam. Er wurde sesshaft und gründete die erste Schule der Adem. Die Jahre vergingen und er bildete viele Adem zu Schützen aus. Wer Aethes Schülern drei Pfeile und drei Münzen gebe, so hieß es, sei mit einem Schlag seine drei schlimmsten Feinde los.
Die Schule wurde reich und berühmt und war stolz. Und dasselbe galt für Aethe.
Dann kam Rethe zu ihm. Rethe, seine beste Schülerin, die seinem Ohr und seinem Herzen am nächsten stand.
Sie sprach mit ihm, und Aethe widersprach. Die beiden stritten sich und schrien dabei so laut, dass es die ganze Schule selbst durch die dicken Steinmauern hören konnte.
Zuletzt forderte Rethe Aethe zum Zweikampf heraus. Aethe nahm an und es wurde vereinbart, dass der Sieger von diesem Tag an die Schule leiten sollte.
Da Aethe herausgefordert worden war, wählte er seinen Platz zuerst. Er stellte sich zwischen einige junge Bäume, die im Wind schwankten und ihm immer wieder Deckung gaben. Unter anderen Umständen hätte er sich nicht mit einer solchen Vorsichtsmaßnahme abgegeben, doch Rethe war seine beste Schülerin und konnte den Wind genauso gut lesen wie er. Mitgebracht hatte er seinen Bogen aus Horn und einen einzigen, spitzen Pfeil.
Dann nahm Rethe ihren Platz ein. Sie stieg zur Kuppe eines Hügels hinauf, und ihre Silhouette hob sich deutlich vom wolkenlosen Himmel ab. Sie hielt weder einen Bogen noch einen Pfeil in den Händen. Oben angelangt, setzte sie sich ruhig auf den Boden. Das war besonders merkwürdig, denn man wusste, dass Aethe seinen Gegner manchmal lieber ins Bein schoss, statt ihn zu töten.
Als Aethe sah, dass seine Schülerin sich setzte, erfüllte ihn Zorn. Er nahm seinen Pfeil und legte ihn auf. Dann spannte er die Sehne. Rethe hatte sie einst aus ihren langen Haaren für ihn gedreht.«
Shehyn sah mich an. »Wütend schoss Aethe seinen Pfeil ab. Der Pfeil traf Rethe mit voller Wucht. Hier.« Sie zeigte mit zwei Fingern auf die innere Rundung ihrer linken Brust.
»Immer noch sitzend, zog Rethe ein langes, weißes Seidenband unter ihrem Kittel hervor. Der Pfeil ragte aus ihrer Brust. Sie riss eine weiße Feder der Befiederung ab, tauchte den Kiel in ihr Blut und schrieb ein vierzeiliges Gedicht.
Anschließend hielt sie das Band hoch und wartete. Der Wind wehte es zuerst in die eine, dann in die andere Richtung. Zuletzt ließ Rethe es los. Flatternd stieg es auf, hob und senkte sich mit dem Wind, schlängelte sich zwischen den Bäumen hindurch und drückte sich zuletzt fest gegen Aethes Brust.
Das Gedicht lautete:
Ich hörte ein leises Geräusch und hob den Blick. Vashet weinte leise in sich hinein. Sie hielt den Kopf gesenkt, und die Tränen liefen ihr übers Gesicht und tropften ihr als dunkelrote Flecken auf das Hemd.
»Aethe las das Gedicht«, fuhr Shehyn fort, »und erst jetzt erkannte er die tiefe Weisheit seiner Schülerin. Er eilte zu ihr, wollte sich um ihre Verletzung kümmern, doch die Pfeilspitze war so nah am Herzen eingedrungen, dass es unmöglich war, sie herauszuziehen.
Rethe lebte nur noch drei Tage und Aethe pflegte sie, von Kummer überwältigt. Er gab die Schule in ihre Hände und lauschte auf ihre Worte. Die Pfeilspitze steckte die ganze Zeit unmittelbar neben ihrem Herzen.
In diesen drei Tagen diktierte Rethe neunundneunzig Geschichten und Aethe schrieb sie auf. Diese Geschichten stehen am Anfang unseres Umgangs mit Lethani. Sie bilden die Wurzeln von Ademre.
Am Abend des dritten Tages beendete Rethe die neunundneunzigste Geschichte. Aethe betrachtete sich inzwischen als Schüler seiner Schülerin. Nachdem er fertig geschrieben hatte, sagte Rethe: ›Es gibt noch eine letzte Geschichte, die wichtiger ist als alle anderen. Sie wird euch kundgetan, wenn ich aufwache.‹«
Dann schloss sie die Augen und schlief ein. Und im Schlaf starb sie. Aethe lebte danach noch vierzig Jahre und es heißt, er habe nie wieder getötet. Doch hörte man ihn oft sagen: ›Ich habe den einzigen Zweikampf gewonnen, den ich verloren habe.‹
Er führte die Schule weiter und bildete seine Schüler zu meisterhaften Bogenschützen aus. Doch außerdem unterrichtete er sie in der Weisheit. Er lehrte sie die neunundneunzig Geschichten, und so wurde Lethani in ganz Ademre bekannt. Und wir wurden zu dem, was wir heute sind.«
Es folgte eine lange Pause.
»Ich danke Euch, Shehyn«, sagte ich schließlich und bezeugte ihr, so gut ich konnte, meinen
»Sie sind nicht für Barbaren bestimmt.« Doch schien Shehyn über meine Bitte nicht gekränkt, denn sie deutete mit einigen Gesten eine Mischung aus
»Ich arbeite daran, mich zu verbessern.«
Sie wandte sich an Vashet. »Mit Erfolg?«