»In ein, zwei Tagen ist das abgeklungen. Heute Nacht wirst du allerdings wohl auf dem Bauch schlafen müssen.« Sie zupfte mein Hemd zurecht und setzte sich dann wieder auf die Bank mir gegenüber.
Ich sagte nach kurzem Zögern: »Nimm es mir bitte nicht übel, Vashet, aber du kommst mir anders vor als die anderen Adem. Wobei ich natürlich noch nicht viele kenne.«
»Du achtest nur auf die dir vertraute Körpersprache«, erwiderte sie.
»Zugegeben. Aber ich habe das Gefühl, dass du … mehr durch Mimik ausdrückst als andere Adem.« Ich zeigte auf mein Gesicht.
Vashet zuckte mit den Schultern. »Wo ich herkomme, sprechen wir deine Sprache. Außerdem war ich vier Jahre lang Leibwächter und Hauptmann eines Dichters der kleinen Königreiche, der zufällig auch König war. Ich spreche wahrscheinlich besser Aturisch als sonst jemand in Haert, dich eingeschlossen.«
Ich ging nicht auf die letzte Bemerkung ein. »Du bist nicht hier aufgewachsen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich komme aus Feant, einem Ort weiter im Norden. Dort sind wir … offener. Haert hat nur diese eine Schule, und sie prägt das Leben hier sehr stark. Der Weg des Schwertbaums gehört außerdem zu den alten, sehr strengen Wegen. Wo ich aufgewachsen bin, folgt man dem Weg der Freude.«
»Es gibt andere Schulen?«
Vashet nickte. »Haert gehört zu den vielen Schulen, die dem Latantha folgen, dem Weg des Schwertbaums. Er ist nach Aethe und Aratan einer der ältesten Wege. Es gibt noch etwa drei Dutzend weitere Wege. Einige davon sind allerdings sehr klein, und nur ein oder zwei Schulen lehren ihren Ketan.«
»Sieht dein Schwert deshalb anders aus?«, fragte ich. »Hast du es von deiner anderen Schule mitgebracht?«
Vashet beäugte mich misstrauisch. »Was weißt du von meinem Schwert?«
»Du hast damit die Weidengerte zurechtgeschnitten. Tempi hatte auch ein gutes Schwert, aber deins sieht anders aus. Der Griff ist abgenutzt, die Klinge wirkt dagegen neu.«
Vashet sah mich merkwürdig an. »Deinem Blick entgeht nichts.«
Ich zuckte die Achseln.
»Genau genommen gehört das Schwert mir gar nicht«, sagte sie. »Es wurde mir nur zur Aufbewahrung anvertraut. Es ist schon sehr alt, und die Klinge ist der älteste Teil. Ich habe es von Shehyn.«
»Bist du deshalb an diese Schule gekommen?«
Vashet schüttelte den Kopf. »Nein, Shehyn gab mir das Schwert erst viel später.« Sie griff hinter sich und strich mit der Hand liebevoll über den Griff. »Nein, ich kam hierher, weil der Latantha zwar ein sehr strenger Weg ist, seine Anhänger sich aber im Schwertkampf hervortun. Vom Weg der Freude hatte ich alles gelernt, was ich lernen konnte. Drei andere Schulen wollten mich nicht, und dann nahm Shehyn mich auf. Sie ist sehr klug und erkannte, dass auch sie davon profitieren konnte, wenn sie mich unterrichtete.«
»Wir haben wahrscheinlich beide Glück, dass sie so offen ist«, sagte ich.
»Du noch mehr als ich«, erwiderte Vashet. »Zwischen den Wegen herrscht eine gewisse Konkurrenz. Als ich dem Latantha beitrat, hat das auch Shehyns Ansehen gehoben.«
»Es muss schwer gewesen sein, hierher zu kommen, ohne jemanden zu kennen«, sagte ich.
Vashet zuckte mit den Schultern, und das Schwert auf ihrer Schulter hob und senkte sich. »Anfangs ja«, gestand sie. »Aber wer etwas kann, wird anerkannt, und Talent habe ich genug. Unter den Schülern des Wegs der Freude galt ich als bieder und humorlos, hier gelte ich als ziemlich wild.« Sie grinste. »Ein schönes Gefühl, wie eine Garnitur neuer Kleider.«
»Lernt man auf dem Weg der Freude auch Lethani?«, fragte ich.
Vashet lachte. »Darüber streiten sich die Gelehrten. Zunächst einmal lautet die Antwort ja. Alle Adem befassen sich mit Lethani, besonders die Schüler der verschiedenen Schulen. Aber davon abgesehen versteht jeder etwas anderes darunter. Was manchen Schulen als heilig gilt, wird von anderen verachtet.«
Sie musterte mich nachdenklich. »Du sollst gesagt haben, Lethani käme vom selben Ort wie das Lachen. Stimmt das?«
Ich nickte.
»Eine gute Antwort. Mein Lehrer auf dem Weg der Freude hat einmal genau dasselbe zu mir gesagt.« Vashet runzelte die Stirn. »Aber du siehst mich so zweifelnd an. Warum?«
»Ich würde es dir ja sagen, aber dann hältst du mich bestimmt für dumm.«
»Ich würde dich für dumm halten, wenn du mir als deiner Lehrerin etwas verheimlichst«, erwiderte sie ernst. »Wir müssen einander vertrauen.«
Ich seufzte. »Also gut. Ich freue mich, dass dir meine Antwort gefällt, aber ich weiß ehrlich gesagt gar nicht, was sie bedeutet.«
»Danach habe ich dich ja auch nicht gefragt«, meinte Vashet unbekümmert.
»Ich habe sie nur aus Quatsch gesagt«, fuhr ich fort. »Ich weiß, dass Lethani für euch sehr wichtig ist, aber ich selber verstehe es nicht. Ich tu nur so als ob.«
Vashet lächelte nachsichtig. »Das geht nicht«, sagte sie überzeugt. »Genauso wenig wie beim Schwimmen. Man merkt, ob es einer kann.«
»Man kann auch beim Schwimmen nur so tun als ob«, erwiderte ich. »Ich bewege nur die Arme und gehe in Wirklichkeit auf dem Grund des Flusses entlang.«