Timm dachte verwundert: „Der Baron redet wie ein Reiseprospekt. Das kann er also auch! “ Im übrigen wußte der Junge, der das im Entstehen abgebrochene Lachen deutlich genug bemerkt hatte, warum Lefuet diese Leute so weit fortschickte. Er wunderte sich nicht einmal, als der Baron den beiden eine Dampferreise erster Klasse dazuschenkte.
Die Stiefmutter schluchzte schon wieder oder noch immer, als sie sagte: „Sie sind zu gütig, Herr Baron.“
Erwin hatte heiße Augen bekommen bei dem Gedanken an Jamaica. Er zuckte - ebenso wie seine Mutter - mit den Lidern.
„Kommen Sie, bitte, mit in mein Appartement, damit wir das Geschäft gleich erledigen“, sagte der Baron jetzt. Er erhob sich und ging zur Tür, die er mit ironischer Höflichkeit offenhielt.
Frau Thaler stöckelte hinter ihm her, erinnerte sich aber rechtzeitig noch einmal an Timm, drehte sich zu dem Jungen um und fragte: „Wirst du uns auch nicht vergessen, Timm?“
„Ich glaube, ich habe euch schon vergessen“, sagte Timm. Aber nicht sehr laut. Dann gab er ihr die Hand und sagte ernst: „Viel Glück auf Jamaica!“
„Danke, danke, mein Junge!“ Ihr Gesicht begann sich auf ein Lächeln umzustellen. Aber ehe es da war, stand sie schon auf dem Flur.
Erwin gab Timm ebenfalls die Hand und wollte seiner Mutter folgen. Aber Timm hielt ihn zurück und flüsterte: „Besorge mir eine Lupe und leg sie unter die rotgestrichene Bank an der Alster - dem Hoteleingang gegenüber. Hier!“ Er klaubte die Geldscheine heraus, die er in der Tasche hatte, und gab sie seinem Stiefbruder.
Erwin betrachtete die Scheine und fragte: „Was soll dieser kleine Zettel?“
„Ach, den brauch’ ich noch!“ Fast hätte Timm es geschrien. Aber es wurde zum Glück ein Flüstern daraus.
Der Zettel wanderte in die Tasche zurück, und Erwin ging. „Ich halte die Klappe!“ flüsterte er zurück.
Timm nickte und drückte hinter dem Stiefbruder und einer abgelegten Vergangenheit die Tür ins Schloß.
Es ist erstaunlich, wie rasch reiche und einflußreiche Leute Formalitäten erledigen können, für die ein sogenannter kleiner Mann oft Monate benötigt. Auch die Bürokratie ist von der Wolkenhöhe der Gesellschaft aus leicht zu handhaben.
Ein einziges Büro der Baron-Lefuet-Gesellschaft ein Teil der sogenannten Rechtsabteilung, erledigte am nächsten Tage folgende Angelegenheiten für Timm und den Baron:
Das Strandbad von Jamaica wurde Frau Thaler und ihrem Sohn Erwin zu gleichen Teilen überschrieben. (Timm sah die beiden auf diese Weise noch einmal, aber nur kurz. Erwin flüsterte ihm zu, daß die Lupe unter der Bank liege.)
Die Reederei Hamburg-Helgoland-Gästedienst, genannt HHD, ging mit Wirkung vom selben Tage in den Besitz Timm Thalers über. (Der bisherige Besitzer, der alte Herr Denker, drückte Timm nach der Unterzeichnung warm die Hand und sagte „toi, toi, toi“, während er ihm dreimal über die linke Schulter spuckte.)
Das Aktienpaket der Hamburger Reederei, das Timm kurz vorher erst von Mister Penny in London übernommen hatte, wechselte -ebenfalls mit Wirkung vom selben Tage - in den Besitz des Barons über. (Die Sperrfrist von einem Jahr fiel fort, weil Lefuet Besitzer von Stimm-Aktien war.)
Als letzter Vertrag sollte endlich auch der Erbschaftsvertrag ausgestellt werden, den Lefuet bisher mit Erfolg hatte hinauszögern können und nach dem Timm nie gefragt hatte.
Warum der Baron jetzt plötzlich zu diesem Vertrag bereit war, wußte der Junge nicht; aber es kümmerte ihn auch wenig. Die großen Geschäfte waren ihm gleichgültig geworden wie die großen Reichtümer. Das einzige für ihn wichtige Geschäft war der Handel um sein Lachen. Er ahnte, daß der winzige Zettel in seiner Tasche (den er während der Nacht unter dem Kopfkissen verborgen hatte) der Schlüssel zu seinem versperrten Lachen war; und deshalb drängte es den Jungen, die Lupe unter der Bank hervorzuholen. Die Erschöpfung, die Timm nach all den Umständlichkeiten dreier Vertragsabschlüsse fühlte, übertrieb er absichtlich, indem er sich ständig an die Stirn faßte.
„Wenn Sie Kopfschmerzen haben, verschieben wir den Erbschaftsvertrag auf morgen“, sagte der Baron darauf. „Recht so, Herr Thaler?“
Timm sagte nicht sofort ja. Dazu war er zu klug. Er erklärte vielmehr, daß es besser wäre, den Vertrag sogleich abzuschließen, daß er aber leider ganz schreckliche Kopfschmerzen habe; und wenn man Verträge mit klarem Kopf unterzeichnen müsse, dann sei es vielleicht tatsächlich besser, lieber bis morgen zu warten.
Diese List hatte den gewünschten Erfolg. Die Lesung und Unterzeichnung wurde auf den nächsten Tag verschoben, und Timm konnte obendrein (nachdem er folgsam zwei Tabletten geschluckt hatte) an der Alster vor dem Hotel Spazierengehen. („Frische Luft wirkt Wunder“, hatte einer der Rechtsanwälte zu ihm gesagt.)