Timm war diese Begegnung so nützlich wie notwendig. Wieder einmal erkannte er, daß er einen Kreis durchlaufen hatte und wieder am Ausgangspunkt angekommen war, aber um einige Drehungen höher. Von der Gassenwohnung bis hierher hatte er auf gewundenen Wegen einen Berg erstiegen, und nun sah er den Anfang des Weges tief unter sich. Und er sah, daß seine Stiefmutter und Erwin immer noch an derselben Stelle standen und keinen Schritt weitergekommen waren. Obwohl sie hier im Appartement des Hotels „Vier Jahreszeiten“ dicht neben ihm standen, waren sie so fern von ihm, daß er kaum ihre Stimmen hörte.
Die Stiefmutter sagte gerade: „Wir werden jetzt immer bei dir bleiben und für dich sorgen, Timm. Du bist ja der reguläre Erbe des Ganzen, und morgen wirst du sechzehn und... “
„... und keineswegs volljährig!“ belehrte sie der Baron.
Frau Thaler wandte mit einem Ruck den Kopf. In ihre Augen kam das falsche Feuer, das man „hektischen Glanz“ nennt und an das Timm sich gut erinnerte. (Aber er erinnerte sich daran wie an das feuchte Glänzen von Kuhaugen, die man einmal gefürchtet hat und die man beim Wiedererkennen ein bißchen dumm und völlig ungefährlich findet. „Wie dumm, unter der Dummheit zu leiden“, dachte Timm heute.)
Lefuet erklärte jetzt mit belustigt zuckendem Munde, warum Timm mit seinem sechzehnten Jahr noch nicht volljährig sei: „In diesem Lande, Frau Thaler, wird der Mann erst mit einundzwanzig Jahren mündig, kommt also dann erst in den vollen Genuß einer Erbschaft. Sie haben vermutlich erfahren, daß ich die Staatsbürgerschaft eines Landes besitze, in dem der Mann mit sechzehn Jahren volljährig wird; aber das hat nichts mit Ihrem Stiefsohn Timm zu tun. Er untersteht nach wie vor den Gesetzen dieses Landes. Erst wenn er einundzwanzig ist, kann er die Erbschaft regulär antreten.“
Die Stiefmutter hatte den Baron mit keinem Wort unterbrochen. Nur ihre Lider hatten ein wenig geflattert, und eine Hand hatte unruhig mit dem Taschentuch gespielt. Sie wandte sich jetzt wieder an ihren Stiefsohn und fragte mit mühsam unterdrückter Aufregung: „Hast du denn nicht die Staatsbürgerschaft des Barons?“
Timm, der sie ohne Teilnahme gemustert hatte, hörte ihre Frage nicht, weil er in Gedanken war. Er bemerkte nur, daß sie irgend etwas gesagt hatte. Um nicht unhöflich zu sein, zeigte er nun auf die Sessel.
„Setzen wir uns doch, dann redet es sich besser.“
Schweigend verteilte man sich um den Tisch.
Timm schlug ein Bein über das andere und sagte: „Ich habe noch nie darüber nachgedacht, wer jetzt eigentlich mein Vormund ist. Als der Baron...“ (er machte eine kurze Pause) „... starb, hieß es, der neue Baron sei mein Vormund. Erst jetzt fällt mir ein, daß meine Stiefmutter dazu ihre Einwilligung geben mußte. Ist das geschehen, oder... “
Frau Thaler wirkte plötzlich hilflos. Sie murmelte: „Weißt du, Timm, es ging uns nicht gut, als du fort warst. Wir hatten viel Pech, und da... “
„... da hat Frau Thaler mir die Vormundschaft schriftlich und amtlich übertragen“, ergänzte Lefuet für Timm. „Gegen einen ansehnlichen Betrag, den sie für den Kauf eines Variete-Theaters verwendet hat. Und dieses Theater scheint pleite gegangen zu sein.“
„Aber das lag nicht an mir, sondern an den Zeitumständen“, schluchzte Frau Thaler, und dann begann sie wieder ihr altes atemloses Geplapper:
„Ichweißja,daßgerichtlichallesinordnungist,abereristdochmein Kind, undwirsitzendochjetztaufderstrasse,meinsohnundich,und... “
Diesmal unterbrach Timm sie. Er sagte: „Wenn du meine Vormundschaft verkauft hast, kann man nichts mehr daran ändern.“
„Verkauft! Verkauft! Seidochnichtsohart,Timm! Wirwarendochin Not!“
„Und wieviel Geld braucht ihr jetzt?“
„Werredetdenn von Geld? Wir bleibendochjetzt zusammen, Timm!“
„Nein“, antwortete der Junge. „Wir bleiben nicht zusammen! Ich hoffe, wir sehen uns heute zum letzten Mal. Aber wenn ich euch mit Geld helfen kann, will ich es gerne tun. Wieviel benötigt ihr?“
„Meine Zustimmung vorausgesetzt“, sagte der Baron. Aber Timm tat so, als habe er es nicht gehört.
„Ach, Timm!“ (Schon wieder dieses falsche Schluchzen.) „Du bist doch jetzt so unermeßlich reich, und wir als deine Verwandten können doch nicht als Hungerleider leben!“
Der Baron setzte zum Lachen an, schlug sich aber auf den Mund, ehe das verräterische Kullern und Glucksen vernehmbar wurde. Er hatte spotten wollen; doch rechtzeitig fiel ihm ein, daß er ein Lachen besaß, welches diese beiden Leute kannten. Er mußte dafür sorgen, daß sie ihm nie wieder über den Weg liefen; und folglich mußte er zahlen. Deshalb machte jetzt er einen Vorschlag:
„Auf Jamaica, Frau Thaler, besitze ich ein gutgehendes Strandbad. Hauptsächlich für amerikanische Touristen. 60.000 Dollar Jahresumsatz. Sie wissen, Jamaica ist die Insel des ewigen Frühlings. Ihr Bungalow steht unter Palmen am Meer.“