„Nein“, sagte der Fahrer. „Aber wundem tut’s mich nicht. Der alte Herr Denker ist nicht mehr der Kräftigste, und seine Töchter haben sich ja wohl auszahlen lassen. Die Seefahrt scheint denen zu schmutzig zu sein. Sind Sie am HHD interessiert, wenn ich fragen darf?“
Der Baron, immer noch in strahlender Laune, sagte: „Ich besitze ihn bereits.“
„Donnerwetter, das ging aber mal schnell. Fast so schnell wie bei Schwan-Kleb-An, wenn Sie die Geschichte kennen: Man braucht nur hinzulangen, und schon klebt man dran.“
Ein sehr flüchtiger Blick des Fahrers streifte im Rückspiegel Timms Gesicht, das bei der Bemerkung des Chauffeurs zuerst gezuckt hatte und dann starr, beinahe steinern geworden war. Wie so oft verbarg Timm hinter der starren Miene eine ungeheure Aufgeregtheit.
Diese Aufregung war begreiflich: Endlich hatte der Fahrer sich zu erkennen gegeben. Durch einen Hinweis, der dem Baron völlig harmlos erscheinen mußte. Durch eine Anspielung auf das Märchen Schwan-Kleb-An, in dem eine Prinzessin das Lachen lernte. Es war das Zeichen, das Timm im geheimen erwartet hatte, das Zeichen dafür, daß seine Freunde wachsam waren.
Schwan-Kleb-An! Das erste Signal für die beginnende Jagd.
Timm wußte jetzt genau, wer der Fahrer vor ihm war. Es kroch ihm etwas aus dem Bauch die Kehle herauf, aber kein Kullern, das lachen wollte, sondern so ein Gefühl, das einen unfähig zum Sprechen macht. Man nennt es wohl auch einen Kloß in der Kehle.
Das Taxi war inzwischen zur Alster eingebogen und hielt vor dem Hotel. Der Fahrer stieg aus und öffnete die Türen. Er zeigte sich zum erstenmal in seiner ganzen stattlichen Größe.
Jetzt konnte für Timm kein Zweifel mehr sein, um wen es sich handelte.
Als der Baron bezahlt hatte und sich dem Hoteleingang zuwandte, konnte Timm sich nur mit Mühe zurückhalten, den Riesen zu umarmen. Heiser vor Aufregung flüsterte er: „Jonny.“
Der Fahrer nahm die entstellende Brille ab, sali den Jungen an und sagte laut: „Auf Wiedersehen, junger Herr!“ Dabei gab er ihm die Hand. Dann setzte er die Brille wieder auf, stieg ins Auto und fuhr davon.
Timm fühlte ein kleines Papier in seiner Hand, einen winzigen Zettel, einen Fetzen, ein Nichts genaugenommen. Und doch fühlte er sich mit diesem Fetzen Papier reicher als mit allen Aktien der Baron-Lefuet-Gesellschaft, einschließlich der Stimm-Aktien.
Beinahe glücklich folgte er Lefuet ins Hotel, in dessen Vestibül ihnen bereits der Direktor entgegenkam, mit weit geöffneten Armen.
„Herr Baron, welche Ehre!“ schienen seine Hände zu sagen, die sich zu Schalen des Entzückens geöffnet hatten. Aber bevor der Direktor sein Willkommen auch aussprechen konnte, legte der Baron einen Finger auf die Lippen: „Bitte, kein Aufsehen! Wir sind inkognito hier. Mister Brown und Sohn, Kaufmann aus London.“
Die Direktorenarme fielen herunter. Der Mann machte eine korrekte Verbeugung: „As you like it, Mister Brown! Your bagage is already here!“
Timm fand das Ganze ungeheuer belustigend. Er hätte jetzt den Direktor umarmen mögen, so sehr hatte ein kleiner Zettel die ganze Welt für ihn mit einem Schlage verändert.
Aber Timm umarmte niemanden, er lachte auch nicht. Wie sollte er auch? Er sagte ernst und höflich, wie es ihm in langen traurigen Jahren zur Gewohnheit geworden war: „Thank you veiy much!“
Während der Weltreise hatte Timm sich an die ständige Beschattung durch Detektive gewöhnt. Die Leute hatten ihre Aufgabe unauffällig und zurückhaltend erfüllt. Einige Male hatte der Junge die beiden Herren aus Genua wiedererkannt. Beunruhigt hatten sie ihn nie mehr, da er auf der Reise den gehorsamen Begleiter Lefuets gespielt hatte.
Jetzt aber, mit dem kostbaren Zettel in der Jackett-Tasche, witterte Tim hinter jeder Vorhangfalte einen Detektiv. Er wagte nicht, den Zettel herauszunehmen und zu lesen. Auch ließ Jonnys Maskerade und seine gespielte Zurückhaltung vermuten, daß Timms Freunde genau so beschattet würden wie er selber.
Schließlich - der Baron hatte sich für eine Stunde niedergelegt -ging der Junge in das Bad, das zu seinem Appartement gehörte, riegelte hinter sich ab, setzte sich auf die Kante der blaugekachelten Wanne und zog hier den Zettel aus der Tasche.
Das Papierchen war nicht größer, als vier Briefmarken sind. Eine Seite war mit einer winzigen Schrift bedeckt. Aber diese Schrift konnte der Junge mit bloßem Auge nicht lesen. Er brauchte eine Lupe.
Wie aber kam Timm zu einer Lupe? Während er den Zettel wieder in die Tasche steckte, überlegte er: Wenn er von einem Hotelangestellten eine Lupe erbat, würden es die Detektive erfahren. Wenn er eine kaufte, würde der Detektiv im Laden fragen, was der Junge gekauft habe. Wie also unauffällig zu einer Lupe kommen?
Timm hörte, wie jemand klopfte und anscheinend sein Appartement betrat. Er glaubte, es sei Lefuet, ließ vorsichtshalber das Spülwasser der Toilette rauschen, ließ den Riegel der Tür möglichst leise zurückschnappen und ging in den Salon zurück.