Timm ließ die Scherben einfach auf den Boden fallen, zog an der gestickten Klingelschnur und zeigte, als der Diener erschien, stumm mit der blutenden Hand auf die roten Glasscherben.
Der Diener räumte die Scherben fort, wusch und verband die Hand und sagte dann zum erstenmal vier Wörter: „Ich nix Detektiv, bitte!“
„Vielleicht! Vielleicht auch nicht“, antwortete Timm. „Aber ich danke Ihnen, daß Sie so freundlich zu mir sind.“
Selek Bei erschien und schickte den Diener hinaus. Dann starrte er auf Timms Hand: „Hast du nicht unterschrieben? Ist etwas geschehen?“
„Nichts von Bedeutung, Selek Bei. Ich habe unterschrieben.“
„Wo ist der Füllfederhalter?“
„Hier in der Tasche. Würden Sie ihn, bitte, herausholen.“
Der Alte tat es, und Timm fragte: „Was bedeutet dieser Füllfederhalter?“
„Er ist mit einer Tinte gefüllt, die langsam verblaßt und nach und nach ganz verschwindet. Wenn unsere Gesellschaft in einem Jahr die Timm-Thaler-Margarine ankündigt, wird unter dem Vertrag im Safe Ihre Unterschrift fehlen. Dann können Sie verhindern, daß die Margarine auf den Markt kommt. Tim Sie es aber erst dann, wenn alle Welt schon über die Markenmargarine unterrichtet ist!“
„Wird die Gesellschaft dadurch vor die Hunde gehen, Selek Bei?“
Der Alte lachte über die Frage. „Nein, mein Junge, dafür ist sie trotz allem zu stabil. Aber die Gesellschaft wird gewaltige Verluste erleiden. Bis eine neue Sorte da ist, werden die Konkurrenten nicht müßig sein. Unsere Gesellschaft wird mit der Zeit trotzdem enorm an der Markenmargarine verdienen; aber sie wird niemals den Markt beherrschen.“
Selek Bei setzte sich nun in die Eckbank am Fenster und sah in den Regen hinaus. Abgewandten Gesichts sagte er: „Ich weiß nicht, ob du und ich den Baron jemals überlisten werden. Er ist klüger als wir beide zusammen. Trotzdem will ich versuchen, dir zu helfen. Unter den Händen des Barons scheint dir das Lachen vergangen zu sein; und ich möchte, daß du wieder lachen lernst!“
Als Timm erschrocken etwas sagen wollte, winkte Selek Bei ab: „Sag lieber nichts, mein Junge! Aber setze auch keine allzu großen Hoffnungen in meinen Versuch. Lachen, Timm, ist keine Handelsware wie Margarine. Wer damit handelt, handelt irrig. Um Lachen feilscht man nicht. Lachen verdient man.“
Das Telefon läutete. Da die rechte Hand des Jungen verbunden war, ging Selek Bei zum Apparat, hob den Hörer ab, meldete sich, lauschte, verdeckte dann die Sprechmuschel und sagte halblaut: „Ein
Herr aus Hamburg wünscht dich dringend zu sprechen!“
Timm überlegte blitzschnell. Er hatte versprochen, mit seinen Hamburger Freunden ein Jahr lang keine Verbindung aufzunehmen. Andernfalls würde Herrn Rickert vermutlich etwas zustoßen. Also mußte der Junge seinen alten Freund zu dessen eigenem Wohl verleugnen. Er legte deshalb einen Finger auf die Lippen, und Selek Bei sagte: „Herr Thaler ist bereits abgereist.“ Und legte den Hörer auf, aber merkwürdig zögernd.
Kurz darauf verließ der alte Mann den Jungen, der sich ans Fenster stellte und in den gleichmäßig weiterrinnenden Regen hinaussah.
In einem Jahr würde Timm die Hamburger Reederei besitzen und Herrn Rickert schenken; in einem Jahr würde seine fehlende Unterschrift ein Königreich aus Margarine in Verwirrung stürzen; in einem Jahr würde er Kreschimir und Jonny, Herrn Rickert und dessen Mutter wiedersehen; in einem Jahr...
Der Junge wagte nicht, sich das mögliche Glück auszumalen. Aber er hoffte darauf. Auch hoffte er, dieses Weltreise-Jahr in Begleitung Lefuets ruhig und mit Anstand zu überstehen.
Und Hoffnung hißt Fahnen der Freiheit.
VIERTES BUCH.
Frau Bebber
Das Welt-Reise-Jahr wurde für Timm ein Jahr im Fluge. Es begann in der kleinen zweimotorigen Privatmaschine, die den Jungen und den Baron nach Istanbul flog. Wieder sah Timm dabei Frauen und Männer, die ihre Esel durch das Gebirge trieben. Aber sie waren ihm nicht mehr fremd wie beim ersten Mal, als er sie gesehen hatte. Ihre Kleidung glich derjenigen Selek Beis und einiger Schloßbediensteter. Er fühlte, obwohl er die Leute da unten nicht kannte, daß er sie gern hatte. Er empfand für sie Wohlwollen und Mitleid. So wie für die Scherenschleifer von Afghanistan.
In Istanbul blieben die beiden eine Woche lang. Timm begleitete den Baron in Moscheen und Bildergalerien und fand fast eine Art Gefallen an der Reise. Er war durch die Ereignisse im Schloß für eine Weile entmutigt worden, seinem Lachen nachzujagen.