Obwohl Timm das Ausmaß seines Reichtums noch gar nicht kannte, wußte er doch schon, daß eine riesige Flotte von Schiffen unter dem Namen des Barons die Meere befuhr. Er ahnte, daß die großen Märkte der Welt - wie jener in Athen - seinem Reichtum tagtäglich neue Reichtümer hinzufügten; und er sah eine ganze Armee von Direktoren, Unterdirektoren, Angestellten und Arbeitern, Hunderte, Tausende, vielleicht Zehntausende, die ausführten, was er befahl. Diese Vorstellung war ein Kitzel. Wenn Timm daran dachte, daß er einmal einen lächerlichen Kampf um den Platz für seine Schularbeiten hatte kämpfen müssen, wenn er daran dachte, wie klein und unbedeutend Presidents vom Wasserwerk ihm gegenüber geworden waren, dann kam er sich hier oberhalb des seltsamen, aber doch prächtigen Parks wie jener einsame bayerische Märchenkönig vor, von dem eine ältliche Lehrerin in der Geschichtsstunde geschwärmt hatte. Timm träumte, daß er in einer goldenen Kutsche, begleitet von Selek Bei zu Pferde, vor Frau Bebbers Bäckerladen vorführe - unter den Augen einer maulaufsperrenden Nachbarschaft.
Der Junge im Turmzimmer vergaß für eine Weile sein verlorenes Lachen und träumte den Traum vom Königsein.
Die Wirklichkeit sah anders aus. Die Wirklichkeit hieß Margarine und sollte ihn an sein verlorenes Lachen deutlich genug erinnern.
Es gab im Schloß einen holzgetäfelten Beratungsraum, in dem ein langer Tisch stand, der von schweren Armsesseln umgeben war. Wenn man in die Tür trat, fiel der Blick auf ein Gemälde in breitem Goldrahmen, das an der Stirnwand des Raumes hing. Es war ein berühmtes Selbstbildnis des Malers Rembrandt, von dem die Welt glaubte, es sei in einem Kriege verlorengegangen.
Unter diesem Bildnis, am Kopf des Tisches, saß der Baron. Links von ihm saßen Selek Bei und Timm Thaler, rechts von ihm Mister Penny und Senhor van der Tholen. Man sprach - diesmal ganz offiziell - über „die Lage auf dem Buttermarkt“. Und Timms wegen sprach man deutsch. (Obwohl Mister Penny Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache hatte.)
Am Anfang der Sitzung (denn eine Besprechung dieser Art nennt man Sitzung, so als ob das Sitzen dabei die Hauptsache wäre), am Anfang der Sitzung also hatte Mister Penny nüchtern und geschäftsmäßig gefragt, ob Timm Thaler zukünftig an allen geheimen Beratungen teilnehmen solle. Selek Bei war dafür gewesen; aber die übrigen Herren hatten sich dagegen ausgesprochen. Der Junge sollte nur an dieser Sitzung teilnehmen; erstens, um ein wenig mit dem Unternehmen vertraut zu werden, zweitens, weil er über den Verbrauch von Margarine in seiner Gasse berichten sollte.
Aber zunächst sprach man über die Scherenschleifer von Afghanistan, und das war seltsam genug. Timm erfuhr aus dem Hin und Her des Gesprächs das Folgende: Die Baron-Lefuet-Gesellschaft hatte in Afghanistan etwa zwei Millionen sehr billiger Messer und Scheren verschenkt, aber nicht aus purer Menschenliebe, sondern um dabei etwas zu verdienen. Diese Messer und Scheren kosteten die Gesellschaft nämlich höchstens fünfzehn Pfennig. Das Schleifen aber kostete zwanzig Pfennig, und da es keine guten Messer und Scheren waren, mußten sie mindestens zweimal im Jahr geschliffen werden. Nun waren aber alle Scherenschleifer in Afghanistan Angestellte der Gesellschaft des Barons, und ein gewisser Ramadulla, ehemals ein gefürchteter Räuber und Wegelagerer, hielt sie in strenger Zucht. Er versorgte sie mit Schleifsteinen und Kunden, verlangte dafür aber so viel von ihren Einnahmen, daß er die Hälfte dessen, was die Scherenschleifer verdienten, an die Gesellschaft des Barons abgeben konnte. Was dabei noch für die Scherenschleifer übrigblieb, kann man sich leicht vorstellen.
Demnächst sollte nun in Afghanistan auch noch für die Scherenschleifer geworben werden. Und das konnte man in einem so armen Lande nicht mit Radios oder Zeitungen oder Plakaten tun; denn die wenigsten Afghanen konnten lesen, und Radios gab es kaum. Deshalb hatte man Straßensänger bezahlt, die das Lied vom Scherenschleifer singen mußten. In diesem Lied, über das die Herren sich lange unterhielten, wurde nicht etwa die Kunstfertigkeit der Schleifer gelobt, sondern es wurde ihre Armut besungen, damit die Leute bei ihnen aus Mitleid ihre Messer und Scheren schleifen ließen. In Deutsch hatte das Lied etwa folgenden Wortlaut:
Die letzte Strophe sollte zeigen, wie glücklich der Schleifer ist, wenn man ihm Scheren und Messer bringt: