Jetzt wurde der Baron aufmerksam. „Für Sie war die Margarine also Schmalz, öl, Backfett und Butter in einem, wie?“
Timm nickte. „Ich glaube, allein in unserer Gasse wurde jeden Tag mindestens ein Zentner Margarine verbraucht.“
„Das ist interessant“, murmelte Lefuet. „Das ist hochinteressant, Herr Thaler! Ausweichmanöver mit Margarine und Geländegewinn auf dem Buttermarkt. Das ist beinah genial. Aber wie?“
Der Baron versank in Nachdenken, er schien auf seinem Sitz förmlich in sich zusammenzusinken. Und das war Timm lieb; denn unter sich sah er in den Falten des Gebirges aus verschiedenen Richtungen Eselkarawanen ziehen, die alle einem Punkt zustrebten, anscheinend einem Ort, an dem Markttag war. Der Pilot flog des Jungen wegen sehr niedrig, und so konnte Timm auch die Eseltreiber und -treiberinnen ziemlich deutlich erkennen. Da er die Gesichter nur als helle Scheiben mit oder ohne Schnauzbart sah, beurteilte er die Leute da unten nach ihrer Kleidung, und die war für seine Augen so absonderlich, daß diese Menschen ihm vorkamen wie seltsame fremde Tiere, die man in zoologischen Gärten sieht. Natürlich war das großer Unsinn; denn wenn die Leute da unten frisiert und gekleidet gewesen wären wie zum Beispiel die Leute in Timms Geburtsstadt, hätte der Junge nichts Absonderliches an ihnen gefunden außer vielleicht ihre etwas dunklere Hautfärbung. Aber bei einem vierzehnjährigen Jungen, der unvorbereitet in ferne Länder entführt wird, ist eine unrichtige Meinung über nie zuvor gesehene Völkerstämme begreiflich und erklärlich. Im übrigen sollte Timm sehr bald am Beispiel Selek Beis lernen, neue Bekannte und andere Völker nicht vorschnell zu beurteilen.
Dieser Selek Bei kam aus einem Olivenwäldchen herausgeritten, als das Flugzeug in einem hochgelegenen flachen Tal gelandet und Timm als erster ausgestiegen war. Lefuet begrüßte ihn ungewöhnlich höflich auf arabisch. Unter dem Verbeugen flüsterte er dem Jungen zu: „Er ist ein großer Kaufherr und das Oberhaupt der Yeziden. Er hat in Ihrer Heimatstadt studiert. Gleich wird er anfangen, deutsch mit uns zu reden. Behandeln Sie ihn ehrerbietig, und verneigen Sie sich tief.“
Selek Bei wandte sich jetzt an Timm, der nicht wenig verwirrt war. Der bärtige Greis trug eine Kleidung, deren einzelne Teile der Junge erst nach und nach erkannte. Da war ein Hemd, ein Wams, ein Rock und ein Überrock, dazu ein farbiges Tuch, das um den Bauch geschlungen war, und schließlich ein Rock, wie ihn Frauen tragen, unter dem geschlungene Beinkleider sichtbar waren. Das alles war von prächtigster Farbigkeit, in der das Rostrot vorherrschte. Das dunkle Gesicht Selek Beis war eckig, aber fast ohne Falten. Unter schwarzen Brauen saßen blaue Augen.
„Ich nehme an, junger Herr, Sie sind der berühmte Erbe, von dem die Zeitungen berichten“, sagte er in erstaunlich gutem Hochdeutsch. „Ich begrüße Sie und wünsche Ihnen Gottes Segen.“
Der Greis verbeugte sich, und Timm tat das gleiche. Seine Verwirrung steigerte sich; denn dieser Mann, der ihm Gottes Segen wünschte, war das Oberhaupt der sagenhaften Teufelsanbeter. Obendrein schien sich hinter dieser Gestalt, die für Timms Augen beinahe eine Figur aus dem Panoptikum war, ein sehr gebildeter Herr zu verbergen. Der Augenschein und die Wirklichkeit unterschieden sich so sehr voneinander wie eine Wachsblume von einer lebendigen Rose. Das eben war es, was Timm verwirrte. Aber der Junge hatte längst gelernt, seine Gefühle zu verbergen. Höflich antwortete er dem alten Selek Bei: „Ich freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen. Der Baron hat mir schon viel von Ihnen erzählt.“ (Das stimmte zwar nicht; aber Timm hatte solche höflichen Schwindeleien jetzt oft gehört und machte sie nach.)
Eine offene vierrädrige Kutsche, die von zwei Pferden gezogen wurde, brachte sie zum Schloß. Selek Bei ritt nebenher und unterhielt sich dabei mit dem Baron auf arabisch.
Als die Kutsche um das Olivenwäldchen bog, lag das Schloß vor ihnen, das einen sanften Abhang krönte.
Es war ein Monstrum, ein backsteinernes Spektakel mit Zinnentürmchen und Regenwasser speienden Drachenköpfen am Ende der Dachrinnen.
„Glauben Sie, bitte, nicht, ich hätte diese Scheußlichkeit gebaut“, wandte der Baron sich an Timm. „Ich habe das Ding einer verschrobenen englischen Lady abgekauft, weil dieser Winkel der Welt mir gefällt. Nur der Park wurde von mir angelegt.“
Dieser Park, der in Terrassen den Abhang hinabstieg, war auf französische Art angelegt. Die zu Kegeln, Würfeln und Kugeln geschnittenen Bäume und Büsche mußten mit Zirkel und Lineal gepflanzt worden sein, so schnurgerade waren die Alleen, so peinlich gezirkelt die Rondells. Jede Terrasse bildete ein anderes Ornament. Die Wege schienen mit einer Art rotem Kies bestreut zu sein.
„Wie gefällt Ihnen der Park, Herr Thaler?“
Timm, der so viel beschnittene Natur einfach blödsinnig fand, antwortete: „Er ist eine gut gelöste Rechenaufgabe, Baron!“
Lefuet lachte. „Sie umschreiben Ihre Abneigung sehr höflich, Herr Thaler. Ich muß sagen, Sie entwickeln sich vortrefflich.“