Herr Rickert lebte mit seiner Mutter zusammen, einer molligen alten Dame mit weißen Löckchen und einem Mädchenstimmchen, die über alles lachte wie ein Kind.
„Du s-teilst (immer so traurich nun, Jung“, sagte sie zu Timm. „Das’s gar noch gut in dein’ Alter! S-päter wird das Leben noch ernst genuch, noch, Krüschan?“
Ihr Sohn, der Reedereidirektor, nickte und nahm dann die Mutter zur Seite. Er erklärte ihr, daß dem Jungen irgend etwas Schreckliches passiert sein müsse und daß sie, bitte, behutsam mit ihm umgehen möge.
Die alte Dame konnte nur schwer begreifen, was ihr Sohn meinte. Sie hatte ein wohlhabendes heiteres Elternhaus gehabt, hatte reich und mit Heiterkeit geheiratet, und nun wurde sie heiter und mit viel Geld alt. Sie kannte die Gassen der großen Stadt nur aus rührseligen Geschichten, bei denen sie heftig weinte, und Zank, Neid und Hinterhältigkeit sah sie einfach nicht, weil sie so etwas nicht sehen wollte.
Sie war ihr Leben lang ein Kind geblieben. Sie war ein himmelblauer Krokus, der nicht aufhörte zu blühen.
„Weißt du was, Krüschan“, sagte sie nach der Unterredung mit ihrem Sohn. „Ich geh ein büschen aus mit’m Jung. Du würst sehn, ich bring ihn bes-timmt zum Lachen!“
„Sei behutsam, Mutter!“ sagte Herr Rickert. Und das versprach die alte Dame.
Für Timm wurden die Ausflüge mit ihr deshalb so schwierig, weil er dieses liebe Kind von achtzig Jahren so schrecklich gern mochte. Wenn ihre kleine weiche Hand die seine nahm, hätte er ihr gern zugeblinzelt und gelacht. Er hätte sie sogar geneckt wie eine ältere Schwester; denn das paßte zu ihr.
Aber sein Lachen war weit entfernt von ihm. Irgendwo auf dem Erdball lief ein reicher, merkwürdiger Baron damit herum.
Timm wußte jetzt, daß er das Beste verkauft hatte, was er jemals besessen hatte.
Am Dienstag kam der alten Frau Rickert ein merkwürdiger Einfall. Sie las in der Zeitung, daß eine Marionettenbühne das Märchen „Schwan-Kleb-An“ aufführe. Es war das Märchen von der Prinzessin, die nicht lachen konnte. Frau Rickert erinnerte sich genau an die Geschichte. Und sie beschloß, dieses Märchen zu besuchen -in Begleitung des Jungen, der nicht lachen konnte.
Sie fand ihre Idee ganz „wunnerbar“, erzählte aber niemandem davon. Sie kicherte nur den ganzen Morgen hindurch vor sich hin und lud erst am Nachmittag beide Männer zu der Vorstellung ein: Herrn Rickert und Timm. Und beide konnten der alten Frau nichts abschlagen und gingen mit.
Das Marionettentheater war nicht weit entfernt. Es spielte in Ovelgönne, einem kleinen, abgeschiedenen Vorort Hamburgs, der sich zwischen der Elbe und ihrem hochaufsteigenden Ufer entlangzieht und eigentlich nur aus einer Zeile kleiner sauberer Häuser in Gärten besteht. Hier war im Hinterzimmer eines Gasthauses das Marionettentheater aufgebaut.
Der kleine Saal war voller Kinder. Nur einige Mütter oder Väter saßen dazwischen.
Frau Rickert erspähte sogleich drei freie Plätze in der zweiten Reihe und drängte sich lachend und gestikulierend zu diesen Plätzen vor. Ihr Sohn und Timm folgten ihr. Und kaum saßen sie, da wurde es dunkel im Saal, und der kleine rote Vorhang des Theaterchens öffnete sich.
Das Spiel begann mit einem gereimten Zwiegespräch zwischen einem König und einem Vagabunden. Die beiden begegneten einander bei Nacht auf freiem Felde unter dem vollen Mond. Das Gesicht des Königs war bleich und ernst. Das Vagabundengesicht hatte selbst unter dem Mondlicht frische rote Wangen und einen Mund, der immer zu lächeln schien. Dies war ihr Zwiegespräch, das die Geschichte einleitete: