Frau Thaler stürzte in Erwins Begleitung zu den Schaltern. Timm fuhr, ohne auf die beiden zu warten, mit der Straßenbahn heim, holte aus der Standuhr den Vertrag und das ersparte Geld, steckte das eine ins Mützenfutter, das andere in die Brusttasche seines Mantels und wollte eben mit dem Mantel über dem Arm die Wohnung verlassen, als er die Stiefmutter und Erwin kommen hörte. Schnell trat er hinter den Vorhang der kleinen Besenkammer.
Er horte die Stiefmutter seinen Namen rufen. Aber er verhielt sich still.
„Womagderjungebloß sein?“ hörte er dann. „Eristsokomischinderletztenzeit.“ im Innern der Wohnung verloren sich die Stimmen. Er hörte Erwin noch fragen: „Sind wir jetzt sehr reich?“ Und die schrille Stimme der Stiefmutter sagte etwas wie „... undvierzigtausend!“
„Nun“, dachte Timm ganz kühl und ruhig. „Dann brauchen die beiden mich sicher nicht mehr.“
Er verließ die Besenkammer, öffnete und schloß die Wohnungstür so leise wie möglich, ging hart unter den Fenstern vorbei zum Park hinüber und rannte dann, so schnell ihn die Beine trugen, zum Friedhof im Osten der Stadt.
Erst als der dicke schnauzbärtige Friedhofswärter ihn am Eingang nach der Grabnummer fragte, wurde ihm klar, daß er wegen des Marmorgrabsteins für seinen Vater hier wohl an der falschen Stelle sei. Immerhin wollte er einen Versuch machen. Er fragte: „Kann ich bei Ihnen einen Marmorgrabstein bestellen?“
„Marmor ist bei uns nicht zugelassen. Zugelassen ist Sandstein“, brummte der Schnauzbart. „Außerdem bist du bei mir an der falschen Adresse. Aber der Steinmetz hat sonntags geschlossen.“
Plötzlich kam Timm ein verwegener Gedanke.
„Wollen wir wetten, daß mein Vater einen Marmorgrabstein hat? Darauf steht in Goldbuchstaben: Von deinem Sohn Timm, der dich nie vergißt.“
„Die Wette hast du verloren, bevor du sie abgeschlossen hast, Junge.“
„Ich wette trotzdem! Um eine Tafel Schokolade!“ (Timm hatte auf dem Fenstersims der Portierloge eine Tafel Schokolade entdeckt.)
„Kannst du denn eine Tafel Schokolade bezahlen, wenn du verlierst?“
Timm zog seine Geldscheine aus der Manteltasche und zeigte sie. „Wetten Sie jetzt?“
„Die verrückteste Wette, die ich jemals abgeschlossen habe“, murmelte der Friedhofswärter. „Also meinetwegen!“ Sie besiegelten die Wette durch Handschlag und wanderten durch den riesigen parkähnlichen Friedhof ans Grab des Herrn Thaler.
Schon von weitem sahen sie drei Männer in Arbeitskleidung auf dem Grab. Der dicke Friedhofswärter beschleunigte den Schritt.
„Das ist doch...“ Er schnaufte wie ein Walroß und rannte jetzt fast.
Auf das Grab war gerade ein frischer Stein gesetzt worden. Aus Marmor. Der Stein trug in Goldschrift Namen und Lebensdaten des Vaters. Und darunter stand: „Von deinem Sohn Timm, der dich nie vergißt“.
Die Arbeiter kümmerten sich wenig um das Geschrei des Friedhofswärters. Sie zeigten ihm einige Papiere, die bewiesen, daß dieser Stein vollkommen zu Recht aufgestellt worden war. Es lag sogar eine Sondergenehmigung dafür vor, einen Marmorstein zu setzen. Der Friedhofswärter war gerade ein bißchen eingenickt gewesen, als die Männer gekommen waren. Sie hatten ihn nicht wecken wollen.
„Übrigens“, fügte einer der Männer hinzu, „das Geld soll von einem gewissen Timm Thaler bezahlt werden.“
„Stimmt“, sagte Timm. „Hier ist das Geld.“ Er holte es wieder aus der Manteltasche und zählte es einem Arbeiter in die Hand. Was ihm blieb, waren fünfzig Pfennig.
Der Friedhofswärter stapfte knurrend zu seiner Loge zurück. Die Arbeiter räumten ihre Gerätschaften zusammen, tippten an ihre Schirmmützen und gingen ebenfalls davon.
Timm stand mit einer Barschaft von fünfzig Pfennig und einem merkwürdigen Vertrag allein am Grab des Vaters und erzählte einem Toten all das, was er so gern einem lebendigen Menschen berichtet hätte.
Schließlich schwieg er, betrachtete den Grabstein noch einmal, fand ihn sehr schön und sagte dann: „Ich komme wieder, wenn ich lachen kann. Bis bald!“ Doch plötzlich stutzte er und setzte hinzu: „Hoffentlich bis bald!“
An der Portierloge nahm er von einem verärgerten Friedhofswärter die Schokolade in Empfang und kaufte dann für sein letztes Geld eine Straßenbahnkarte. Wohin er gehen würde, wußte er noch nicht. Er wußte nur, daß er jetzt den karierten Herrn suchen und sein verkauftes Lachen zurückgewinnen wollte.
Die Straßenbahn war fast leer. Außer Timm saß nur ein rundlicher älterer Herr mit einem lustigen Mopsgesicht im Wagen.
Er fragte den Jungen, wohin er fahre.
„Zum Bahnhof1, antwortete Timm.
„Aber dann hättest du eine Umsteigekarte lösen müssen. Diese Bahn fährt nicht zum Bahnhof. Ich weiß es genau, weil ich auch dorthin muß.“
Timm, der seine Mütze auf die Knie gelegt hatte, fühlte unter seinen Fingern das Papier des Vertrages knistern. Da kam ihm plötzlich der Gedanke, möglichst unsinnige Wetten einzugehen. Vielleicht würde er eine davon verlier ren; dann hätte er sein Lachen zurückgewonnen!
So sagte er: „Ich wette mit Ihnen, mein Herr, daß diese Straßenbahn zum Bahnhof fährt.“