Auf dem Rennplatz war er fast vergessen, weil er ein ganzes Jahr lang nicht gewettet hatte. Aber einige Leute kannten ihn noch und zeigten flüsternd auf ihn. Besonders ein Herr mit krausem braunem Haar und merkwürdig stechenden wasserblauen Augen schien sich sehr für Timm zu interessieren. Er umkreiste den Jungen wie ein Hund seinen Herrn, beobachtete ihn ebenso unablässig wie unauffällig und stellte sich schließlich neben Timm, als der die Liste der Pferde studierte.
„Auf Südwind scheint niemand zu setzen“, bemerkte er betont beiläufig und ohne den Jungen dabei anzusehen. „Willst du auch wetten?“
„Ja“, sagte Timm. „Und zwar auf Südwind!“
Jetzt wandte der Fremde den Kopf. „Das ist sehr kühn, mein Junge! Südwind hat so gut wie gar keine Gewinnchancen!“
„Wir werden sehen“, meinte Timm.
Irgendwie war ihm nach Lachen zumute. Aber er konnte nicht lachen. Ernst und ein wenig traurig sah er den Fremden an, der jetzt über Timms kühne Wettabsichten zu witzeln begann und den Jungen zum Schalter begleitete.
Unterwegs scherzte der Fremde weiter. Er machte Witze über die kleinen Jockeys und beobachtete dabei genau das Gesicht des Jungen. Aber Timm verzog keine Miene.
Kurz vor dem Schalter blieb der Herr stehen. Unwillkürlich verhielt auch Timm den Schritt. „Ich heiße Kreschimir“, sagte der Fremde. „Ich meine es gut mit dir, mein Junge. Ich weiß, du hast auf diesem Rennplatz noch nie eine Wette verloren. Das ist selten und zugleich seltsam. Darf ich dich etwas fragen?“
Timm blickte in die wasserblauen Augen, die ihn an jemanden erinnerten. Aber er wußte nicht, an wen. Er sagte: „Bitte schön, fragen Sie!“
Leise und ohne den Jungen aus den Augen zu lassen, fragte Herr Kreschimir: „Warum ladist du niemals, Junge? Magst du nicht? Oder - kannst du nicht?“
Timm stieg das Blut zu Kopfe. Wer war dieser Mann? Was wußte er? Ihm schien mit einem Male, dieser Mann habe die Augen Lefuets. War dies der veränderte Lefuet, der Timm auf die Probe stellen wollte?
Der Junge hatte wohl etwas lange mit seiner Antwort gezögert; denn plötzlich sagte Henr Kreschimir: „Dein Schweigen ist beredt genug. Vielleicht kann ich dir einmal helfen. Ich heiße Kreschimir. Vergiß das nicht. Auf Wiedersehen!“
Im Gedränge der Rennplatzbesucher verschwand der Mann. Timm verlor ihn aus den Augen. Beunruhigt ging er zum Schalter und setzte alles Geld auf „Südwind“.
Nach der Begegnung mit Herrn Kreschimir war er fester als je entschlossen, spätestens morgen die Stadt zu verlassen.
Seine Stiefmutter und Erwin hatten ihn am Schalter entdeckt. Offenbar hatten sie dort auf ihn gewartet. Timm verriet diesmal nicht, auf welches Pferd er gesetzt hatte. Aber zum erstenmal sah er sich mit den beiden zusammen das Rennen an.
„Südwind“ war ein ungewöhnlich temperamentvoller junger Hengst, der sein drittes Rennen lief. Man war der Meinung, das Pferd sei viel zu früh zu den Rennen zugelassen worden. Es hatte bis jetzt nur Plätze in der Mitte des Feldes erzielt. Einmal zwar war „Südwind“ bei Beginn des Rennens wie ein Pfeil an die Spitze vorgeschossen. Aber bald war das Tier zurückgefallen und wie gewöhnlich mit dem Mittelfeld ins Ziel eingelaufen.
Dies alles erfuhr Timm aus dem Gespräch zweier Herren, die neben ihm standen. Zum erstenmal war er auf ein Rennen gespannt. Er hatte Furcht, nach dem Gespräch mit Herrn Kreschimir könne sein Vertrag mit dem karierten Herrn Lefuet ungültig sein. Das Ergebnis dieses Rennens sollte ihm zeigen, ob seine Furcht begründet war.
Der Startschuß wurde gegeben. „Südwind“ kam, als die Pferde sich eingelaufen hatten, auf den vierten Platz, den er ziemlich stetig hielt. Die beiden Herren neben Timm unterhielten sich über das Pferd, das sich an die Spitze gesetzt hatte. Aber dann kamen sie auf „Südwind“ zu sprechen. Timm hörte in dem sich steigernden Lärm der Zwschauer nur Bruchstücke des Gesprächs: „... viel gelernt...“, „... spart seine Reserven... „... wird sich machen...“
Siegesaussichten schien „Südwind“ nicht zu haben. Er hielt den vierten Platz, aber die Pferde vor ihm gewannen an Vorsprung. Erwin und die Stiefmutter drangen jetzt in Timm, ihnen zu sagen, auf welches Pferd er gesetzt habe. Aber der Junge war unsicher geworden. Ängstlich verfolgten seine Augen das Rennen. „Südwind“ schob sich jetzt kaum merklich nach vom. Aber die Strecke bis zum Ziel war nur noch kurz.
Da plötzlich strauchelte das Pferd an der Spitze. Die beiden Pferde dicht hinter ihm scheuten kurz und drängten sich ein wenig zur Seite. In diesem Augenblick zog „Südwind“ gradlinig in einem glänzenden Endlauf an ihnen vorbei und lief kurz darauf unangefochten als Sieger durchs Ziel.
Das Rufen der Menge war mehr Enttäuschung als Jubel. Neben sich hörte Timm sagen: „Eines der verrücktesten Rennen, die ich erlebt habe!“
Auf der großen Gewinntafel erschien der Name „Südwind“ ganz oben. Timm war erleichtert. Wie gern hätte er jetzt gelacht. Aber statt dessen nahm er nur stumm den Wettabschnitt aus der Tasche, gab ihn der Stiefmutter und sagte: „Wir haben gewonnen! Bitte, hole du das Geld!“