Wieder lachte er Timms Lachen. Und plötzlich schien er große Eile zu haben. Er rief nach der Kellnerin, zahlte, stand auf, sagte flüchtig: „Viel Glück, Junge“, und entfernte sich.
Timm mußte sich jetzt mit dem Wetten beeilen, denn das letzte Rennen stand kurz bevor. Er eilte zum Schalter, ließ sich einen Wettschein geben und wettete ohne großes Kopfzerbrechen auf das Pferd Mauritia II. Wenn der Vertrag in seiner Mütze stimmte, mußte dieses Pferd gewinnen.
Und Mauritia II gewann.
Timm, der diesmal für zehn Mark gewettet hatte, erhielt mehrere hundert Mark, die er verstohlen in seine linke Jackentasche steckte. Dann verließ er schnell die Rennbahn.
Erst draußen vor dem Tor der Rennbahn fühlte Timm vorsichtig wieder nach dem gewonnenen Geld. Als das Papier knisterte, schlug ihm das Herz bis hinauf in den Hals. Er, Timm Thaler, war ein reicher Mann! Er konnte dem Vater einen Grabstein setzen lassen. Er konnte die Schulden bei Frau Bebber bezahlen. Er konnte der Stiefmutter und Erwin etwas kaufen und wenn er wollte, konnte er sich einen Tretroller anschaffen. Mit Hupe und Luftreifen!
Um sein Giück zu genießen, ging Timm zu Fuß heim. Er hätte unterwegs der Stiefmutter gern etwas gekauft. Aber es war Sonntag, und die Läden waren geschlossen. Den Gewinn in der Tasche umklammerte der Junge fest mit seiner linken Hand.
Unterwegs begegnete er drei Mitschülern. Während er sich mit ihnen unterhielt, fragte der eine: „Was hast du denn da in der Tasche, Timm? Einen Frosch?“
„Nein, eine Lokomotive!“ sagte Timm und wollte lachen. Aber wieder preßten seine Lippen sich zu einem schmalen Strich zusammen.
Seine Schulfreunde merkten es nicht. Sie lachten über Timms Antwort, und einer rief: „Zeig doch mal deine Lokomotive!“
„Vielleicht“, meinte ein anderer, „können wir damit nach Honolulu fahren! “
Aber Timm hielt die Hand nur umso fester in der Tasche und sagte: „Ich muß nach Haus. Auf Wiedersehn!“
Seine Schulkameraden ließen sich mit dieser Antwort nicht abspeisen. Sie warteten, bis Timm ein Stück weitergegangen war, schlichen ihm auf Zehenspitzen nach und rissen ihm plötzlich von hinten die Hand aus der Tasche.
Zu ihrer Verblüffung flogen Banknoten durch die Luft: Scheine, auf denen zwanzig, fünfzig, ja, sogar hunderf Mark zu lesen war!
Das war ungewöhnlich, denn Timm wohnte im sogenannten Armenviertel, und die Jungen wußten das.
„Woher hast du das viele Geld?“ fragte einer.
„Ich hab’ es bei Präsidents vom Wasserwerk gestohlen“, sagte Timm und wollte trotz seines Zorns lachen. Aber es wurde ein so freches Grinsen daraus, daß die drei Jungen erschraken. Sie glaubten ernstlich, Timm spräche die Wahrheit; und plötzlich rannten sie Hals über Kopf davon. In der Feme noch hörte man sie rufen: „Timm Thaler hat Geld gestohlen! Timm Thaler ist ein Dieb!“
Timm hörte es. Er sammelte traurig die Geldscheine wieder auf und steckte sie in die Tasche. Dann ging er an den kleinen Fluß, der die Stadt durchfließt, setzte sich auf eine Bank und sah einer Entenfamilie zu, die sich am Ufer herumtrieb.
Die kleinen Enten watschelten noch etwas unbeholfen durch das Gras, und am Tag zuvor hätte Timm sicherlich über sie gelacht. Heute fand er sie nicht einmal komisch. Und das machte ihn traurig. Er starrte sie an, wie man eine leere Mauer anstarrt, ohne jede Teilnahme. Und er merkte, daß er an diesem Sonntag ein anderer Junge geworden war.
Erst als es langsam zu dunkeln begann, wanderte Timm in die Gasse zurück, in der er zu Hause war.
Vom Anfang der Gasse aus sah Timm vor der Tür seiner Wohnung die Stiefmutter mit einigen Nachbarn stehen. Sie schwätzten aufgeregt miteinander; doch kaum wurden sie Timms ansichtig, als sie wie ein Schwärm Hühner auseinanderstoben und sich in ihre Wohnungen verkrochen. Aber überall blieben die Türen halb angelehnt, und hinter allen Fenstern, an denen er vorbeikam, bewegten sich die Gardinen.
Die Stiefmutter war vor der halbgeöffneten Tür stehengeblieben und machte eine Miene, als stehe der Weltuntergang bevor. Aus kreidebleichem Gesicht starrte ihre gerötete spitze Nase Timm entgegen. Und kaum war der Junge nahe genug, da ohrfeigte sie ihn ohne ein Wort von beiden Seiten und zerrte ihn ins Haus.
„Wo ist das Geld?“ kreischte sie im Hausflur.
„Das Geld?“ fragte der völlig ahnungslose Timm.
Wieder gab es zwei Ohrfeigen, daß ihm der Kopf dröhnte und Wasser in seine Augen trat.
„Gib das Geld her, du Nichtsnutz, du Verbrecher! Komm in die Küche!“
Timm wurde beinahe mitgeschleift. Er wußte noch immer nicht, was geschehen war. Doch zog er das Geld aus der Tasche und legte es auf den Küchentisch.
„Himmel, das sind ja Hunderte!“ schrie die Stiefmutter und starrte Timm an, als sei er ein Kalb mit zwei Köpfen.
Zum Glück öffnete sich genau in diesem Augenblick die Küchentür, und die schnaufende Frau Bebber schob sich herein. Hinter ihr erschien auch Erwin, der mit großen Augen das Geld auf dem Tisch verschlang.
„Bei Präsidents ist nicht eingebrochen“, pustete Frau Bebber. „Dort fehlt kein Pfennig!“