Sie gehörten eindeutig zur Spitzenklasse ihrer Zunft, sie waren jung, wohlgestaltet und wohlgepflegt. Jemand schien sie - wenn es nicht purer Zufall war - wegen des Kontrastes ausgewählt zu haben, den sie bildeten. Das Mädchen zur Linken war blond und feingliedrig, von fast klassischem Wuchs, mit langen Oberschenkeln und kleinen hohen Brüsten. Ihre Gefährtin dagegen war dunkelhaarig und gedrungen, mit ausladenden Hüften und breiten, vielleicht eurasischen Zügen. Die Blonde trug, wie er feststellte, ankerförmige Ohrringe, was ihm ungewöhnlich erschien, denn nach seiner wenn auch beschränkten Erfahrung mit dem schwachen Geschlecht waren Ohrringe das erste, was Frauen ablegten. Ann brauchte nur ohne Ohrringe fortzugehen, und schon wurde ihm das Herz schwer. Sonst fiel ihm zu keinem der beiden Mädchen irgendetwas Schlaues ein, und so wandte er nach einem weiteren kräftigen Schluck Whisky pur seine Aufmerksamkeit wieder den Männern zu - denen sie, wenn er ehrlich sein wollte, von Anfang an bei der Betrachtung des Bildes in erster Linie gegolten hatte. Wie die Mädchen, so unterschieden sich auch die Männer scharf voneinander, und bei ihnen kam hinzu, daß - da sie erheblich älter waren - die Unterschiede deutlicher hervortraten und die Charaktereigenschaften verrieten. Der Mann mit dem blonden Mädchen war hellhäutig und wirkte auf den ersten Blick stumpfsinnig, während der Mann mit der Schwarzen nicht nur dunkelhäutig war, sondern Züge von romanischer, ja, levantinischer Lebhaftigkeit besaß sowie ein ansteckendes Lächeln, das einzig Sympathische auf dem Foto. Der helle Mann war breit und unförmig, der dunkle Mann war klein und witzig genug, um sein Hofnarr zu sein: ein Kobold mit einem freundlichen Gesicht und Haarbüscheln, die wie Hörner über den Ohren aufgezwirbelt waren.
Eine plötzliche Nervosität - die sich später als so etwas wie eine Vorahnung erweisen sollte - veranlaßte ihn, sich zuerst den Hellhäutigen vorzunehmen. Es war eine Stunde, in der man sich bei Fremden sicherer fühlte.
Der Oberkörper des Mannes war robust, aber nicht durchtrainiert, die Gliedmaßen schwer, ohne den Eindruck von Kraft zu vermitteln. Die Helle von Haut und Haaren betonte seine Beleibtheit. Die Hände, von denen eine auf der Hüfte, die andere um die Taille des Mädchens lag, waren fett und plump. Smiley ließ die Lupe langsam über die nackte Brust zum Kopf hochgleiten. Mit vierzig, hatte ein kluger Mann einmal drohend geschrieben, bekommt der Mensch das Gesicht, das er verdient. Smiley bezweifelte das. Er hatte empfindsame Seelen gekannt, die zu lebenslanger Haft hinter einer abstoßenden Fassade verdammt gewesen waren, und Verbrecher mit Engelsgesichtern. Wie auch immer, es war kein Schmuckstück von einem Gesicht, und die Kamera hatte es zudem nicht von seiner vorteilhaftesten Seite aufgenommen. Charakterlich schien es in zwei Teile zu zerfallen: die untere Partie, die zu einem Grinsen fieser Hochstimmung verzogen war, während der Mann, wie der geöffnete Mund vermuten ließ, etwas zu seinem Gefährten sagte; die obere, die von zwei kleinen blassen Augen beherrscht wurde, in deren Winkeln weder Fröhlichkeit nistete noch eine Spur von Hochstimmung, und die mit der kalten Ungeniertheit eines Kindes aus ihrem teigigen Umfeld blickten. Die Nase war platt, das Haar voll und der Schnitt mitteleuropäisch.
Gierig, würde Ann gesagt haben, die dazu neigte, ein absolutes Urteil über Leute zu fällen, deren Konterfei sie in der Zeitung gesehen hatte. Gierig, schwach, lasterhaft. Meiden. Nur schade, daß sie bei Haydon nicht zu demselben Schluß gekommen war, zumindest nicht rechtzeitig.
Smiley ging wieder in die Küche, benetzte sich das Gesicht, erinnerte sich dann, daß er eigentlich Wasser für seinen Whisky hatte holen wollen. Er ließ sich wieder in dem Lesesessel nieder und schob die Lupe über den zweiten Mann, den Hofnarren. Der Whisky hielt ihn wach und machte ihn zugleich schläfrig. Warum rief sie nicht nochmals an? dachte er. Wenn sie nochmals anruft, geh ich zu ihr. Doch in Wirklichkeit war sein Denken ganz von diesem zweiten Gesicht in Anspruch genommen, weil die Vertrautheit darin ihn verwirrte, so wie der Ausdruck beschwörender Komplizenschaft bereits Willem und die Ostrakowa verwirrt hatte. Smiley betrachtete das Gesicht, und seine Müdigkeit schwand; er schien neue Kraft aus ihm zu schöpfen. Manche Gesichter sind uns, wie Willem an jenem Morgen gesagt hatte, bekannt, noch ehe wir sie sahen; andere sehen wir ein einziges Mal und erinnern uns unser ganzes Leben lang an sie; wieder andere sehen wir tagtäglich und erinnern uns überhaupt nie an sie. Zu welcher Kategorie gehörte dieses hier?
Ein Toulouse-Lautrec-Gesicht, dachte Smiley, als er es nachdenklich anlinste - festgehalten in dem Augenblick, in dem seine Augen gerade zu irgendeiner unwiderstehlichen, vielleicht erotischen Ablenkung hinüberglitten. Ann wäre sofort auf ihn geflogen; er hatte den gefährlichen Einschlag, den sie liebte.