»Ich hatte Otto vorher nie im Leben so gesehen. Er lachte wie ein Henker, sprach drei Sprachen auf einmal, war nicht betrunken, aber ziemlich angeheitert, sang, riß Witze, was weiß ich. Das ist alles, was ich weiß«, wiederholte Herr Kretzschmar verlegen. Smiley warf diskret einen Blick auf das Beobachtungsfenster und auf die grauen Gehäuse der Apparaturen. Er sah wieder auf Herrn Kretzschmars kleinem Bildschirm, wie die weißen Körper jenseits der Wand sich lautlos umschlangen und trennten. Er sah seine letzte Frage, erkannte ihre Logik, erahnte den Schatz der Erkenntnisse, die sie versprach. Doch derselbe lebenslange Instinkt, der ihn bis hierher gebracht hatte, hielt ihn nun zurück. Nichts, keine kurzfristige Dividende war im Augenblick das Risiko wert, Herrn Kretzschmar zu vergrämen und den Weg zu Otto Leipzig zu versperren.
»Und Otto hat Ihnen sonst weiter nichts über dieses Ziel gesagt?« fragte Smiley, nur um irgendwas zu fragen; um das Gespräch zum Abschluß zu bringen.
»Im Verlauf des Abends kam er einmal zu mir herauf. Hierher. Er entschuldigte sich bei den anderen und kam hierher, um sich zu vergewissern, daß alles plangemäß verlief. Er schaute auf den Bildschirm da und lachte. >Jetzt hab' ich ihn in der Zange, und er kann nicht mehr raus<, sagte er. Ich habe nicht weiter gefragt. Das war alles.«
Herr Kretzschmar schrieb seine Instruktionen für Smiley auf einer Schreibunterlage aus Leder mit Goldecken.
»Otto lebt in schlimmen
Verhältnissen«, sagte er. »Daran kann man nichts ändern. Sein sozialer Status
läßt sich durch Geldzuwendungen nicht verbessern. Er bleibt-« Herr Kretzschmar
zögerte, »- er bleibt im Herzen, Herr Max, ein
»Werden Sie ihm melden, daß ich komme?«
»Wir haben abgemacht, auf telefonische Verständigung zu verzichten. Es besteht keinerlei offizielle Verbindung mehr zwischen uns.« Er reichte ihm das Blatt Papier. »Ich rate Ihnen dringend, sich vorzusehen«, sagte Herr Kretzschmar. »Otto wird sehr zornig sein, wenn er erfährt, daß der alte General erschossen worden ist.« Er begleitete Smiley zur Tür. »Wieviel haben sie Ihnen drunten berechnet?«
»Wie, bitte?«
»Im Lokal unten. Wieviel haben Sie bezahlt?«
»Einhundertfünfundsiebzig Mark Mitgliedsbeitrag.«
»Mit den Getränken mindestens zweihundert. Ich werde Anweisung geben, daß man Ihnen den Betrag am Eingang zurückerstattet. Ihr Engländer seid recht arm geworden. Zuviele Gewerkschaften. Wie hat Ihnen die Show gefallen?«
»Sehr künstlerisch«, sagte Smiley.
Herrn Kretzschmar schien diese Antwort zu gefallen. Er klopfte Smiley auf die Schulter.
»Vielleicht sollten Sie sich ein bißchen mehr amüsieren in Ihrem Leben.«
»Hätte ich vielleicht tun sollen«, pflichtete Smiley bei.
»Grüßen Sie Otto von mir«, sagte Herr Kretzschmar.
»Werde ich nicht verfehlen«, versprach Smiley.
Herr Kretzschmar zögerte, und wieder flog über sein Gesicht ein Schatten von Ratlosigkeit.
»Und Sie haben nichts für mich?« wiederholte er. »Keine Papiere, zum Beispiel?«
»Nein.«
»Schade.«
Als Smiley ging, war Herr Kretzschmar bereits wieder am Telefon und nahm weitere spezielle Anliegen entgegen.
Er kehrte in sein Hotel zurück. Er wurde eingelassen von einem betrunkenen Nachtportier, der Smiley Wundersames zu berichten wußte über die herrlichen Mädchen, die er ihm aufs Zimmer schicken könnte. Der Klang von Kirchenglocken und das Tuten der Schiffe, das der Wind vom Hafen herüberwehte, weckte ihn auf, wenn er überhaupt geschlafen haben sollte. Doch es gibt Alpträume, die nicht dem Tageslicht weichen, und als er in seinem gemieteten Opel durch die Marschen nach Norden fuhr, lauerten in den Nebelschwaden die gleichen Schreckensbilder, die ihn die ganze Nacht hindurch gepeinigt hatten.
17
Die Straßen waren so leer wie die Landschaft. Durch Risse im Nebel erhaschte sein Blick hier einen Flecken Getreidefeld, dort ein rotes Bauernhaus, das sich tief zusammengeduckt gegen den Wind stemmte. Auf einem blauen Schild stand »Kai«. Er schwenkte scharf in eine Laderampe ein, fuhr steil hinunter und sah vor sich die Pier, eine Ansammlung grauer Baracken, die vor den Decks der Frachtschiffe zwergisch wirkten. Ein weiß-roter Schlagbaum versperrte den Weg, und an einer Tafel waren Zollvorschriften in mehreren Sprachen angeschlagen. Keine Menschenseele weit und breit. Smiley stoppte, stieg aus und ging leichtfüßig zur Schranke. Der rote Druckknopf war so groß wie eine Untertasse. Er drückte darauf, und das Kreischen der Klingel scheuchte ein Fischreiherpaar auf, das in den weißen Nebel flatterte. Zu seiner Linken stand ein Wachturm auf Röhrenbeinen. Er hörte eine Tür knallen und ein Metallgeräusch und sah eine bärtige Gestalt in blauer Uniform die Eisenstiege herunterstapfen. Von der untersten Treppe aus rief der Mann ihm zu: »Was wollen Sie denn?« Ohne auf eine Antwort zu warten, ließ er den Schlagbaum hochgehen und winkte Smiley weiter. Die von Kranen gesäumte und vom nebelweißen Himmel plattgedrückte Schotterdecke wirkte wie zerbombt und mit Beton ausgeflickt.