Die flache See dahinter schien zu zerbrechlich für die Last so vieler Schiffe. Er schaute in den Rückspiegel und sah die Turmspitzen einer Hafenstadt wie auf einem alten Stich halb ins Bild hineinragen. Er schaute aufs Meer hinaus und sah durch den Nebel eine Linie aus Bojen und Baken, die die Wassergrenze zu Ostdeutschland markierte und den Beginn von siebeneinhalbtausend Meilen Sowjetimperium. Dahin sind die Reiher geflogen, dachte er. Er fuhr im Kriechtempo zwischen weiß-roten Richtungskegeln auf einen Container-Parkplatz zu, auf dem Wagenreifen und Holzbalken gestapelt waren. >Links vom Container-Parkplatz<, hatte Herr Kretzschmar gesagt. Gehorsam bog Smiley nach links ab und hielt nach einem alten Haus Ausschau, obgleich ein altes Haus auf diesem hanseatischen Schuttabladeplatz ein Ding der Unmöglichkeit schien. Aber Herr Kretzschmar hatte gesagt: >Halten Sie Ausschau nach einem alten Haus, auf dem >Büro< steht<, und Herr Kretzschmar irrte sich nie.
Er rumpelte über ein Bahngleis und
hielt auf die Frachter zu. Die Morgensonne war durch den Nebel gebrochen und
ließ den weißen Anstrich der Schiffe aufblitzen. Er fuhr in eine Allee aus
Kransteuerwarten ein, die alle wie moderne Stellwerke aussahen, mit grünen
Hebeln und großen Fenstern. Und da, am Ende der Allee, stand, genau wie Herr
Kretzschmar versprochen hatte, das alte Wellblechhaus mit einem hohen
Blechgiebel, der einer Laubsägearbeit glich und von einem abblätternden
Flaggstock gekrönt war. Die elektrischen Versorgungsleitungen schienen das
Haus aufrecht zu halten. Neben der Kate stand ein alter, tröpfelnder Brunnen
mit einem angeketteten Blechkrug. Auf der Holztür stand in verblaßten gotischen
Lettern das Wort >Bureau<, in französischer Schreibweise, nicht in
deutscher, und darüber eine Inschrift neueren Datums >P. K. Bergen,
Import-Export<.
Er drückte auf die Klingel und trat
dann gebührend zurück, so daß er gut sichtbar war. Er steckte die Hände nicht
in die Taschen und sorgte dafür, daß sie außerdem noch gut sichtbar waren. Er
hatte seinen Mantel bis oben zugeknöpft. Er trug keinen Hut. Den Wagen hatte er
seitlich vom Haus geparkt, so daß man von drinnen sehen konnte, daß er leer
war.
»Verzeihen Sie bitte«, rief Smiley höflich zu ihr hinauf. »Ich suche Herrn Leipzig. Es ist sehr wichtig.«
»Nicht hier«, antwortete sie und lächelte.
Ein Mann trat an ihre Seite. Er war jung und unrasiert und trug Tätowierungen auf den Armen und der Brust. Sie sprachen einen Augenblick miteinander in einer Sprache, die Smiley für polnisch hielt.
»Wir sind nur Gelegenheitsmieter«, rief das Mädchen hinunter.
»Wenn Otto pleite ist, zieht er in seine Stadtvilla und überläßt uns die Wohnung.«
Sie wiederholte das Ganze für ihren
Freund, der diesmal lachte.
Sie genossen die Morgenfrische und die Gesellschaft.
»Wann haben sie ihn das letzte Mal gesehen?« fragte Smiley. Neuerliche Beratung. War es an diesem Tag oder an jenem? Smiley hatte den Eindruck, daß sie außerhalb der Zeit lebten.
»Donnerstag«, verkündete das Mädchen und lächelte wieder.
»Donnerstag«, wiederholte der Mann.
»Ich habe gute Nachrichten für ihn«, erklärte Smiley fröhlich, ganz auf ihren Ton eingestimmt. Er klopfte auf seine Brieftasche. »Geld, Pinkepinke. Alles für Otto. Ist seine Provision für ein Geschäft. Ich hatte es ihm für gestern versprochen.«
Das Mädchen verdolmetschte das alles, die beiden redeten hin und her, und das Mädchen lachte wieder.
»Mein Freund sagt, Sie sollen es Otto nicht geben, sonst kommt er zurück und wirft uns raus, und wir haben wieder nichts, wo wir miteinander schlafen können.«
Versuchen Sie es mal mit dem Campingplatz am See, schlug sie vor und streckte den nackten Arm aus. Zwei Kilometer die Hauptstraße entlang, über die Eisenbahnlinie und an der Windmühle vorbei, dann rechts - sie schaute auf ihre Hände, bog dann eine anmutig zu ihrem Liebhaber hin -, ja, rechts; rechts, auf den See zu, aber den sehen Sie erst, wenn Sie direkt davor stehen. »Wie heißt der Ort?«
»Hat keinen Namen«, sagte sie, »es ist einfach nur ein Ort. Fragen Sie nach >Ferienhäuser zu vermieten<, und fahren Sie dann auf die Boote zu. Fragen Sie nach Walter. Wenn Otto in der Gegend ist, dann weiß Walter, wo man ihn finden kann.«
»Walter weiß alles«, rief sie. »Er ist der reinste Professor.«