Insofern existiert ein stiller und nicht abgesprochener Konsens. Im Rahmen einer geringf"ugigen Variabilit"at sind Handlungen konsent, oder es ist wenigstens konsent, dass und welche Handlungen auf keinen Fall akzeptiert werden sollen. Ver"anderungen im Verst"andnis sind in das bestehende Begriffsgef"uge integrierbar. Im allgemeinen herrscht in der traditionellen Gesellschaft keine Uneinigkeit "uber Bewertungen oder Werte.
Mit dem sehr weitgehenden homogenen Verst"andnis von Welt geht damit eine weitgehende "Ubereinstimmung von Werten, Normen und deren Begr"undung bzw. Rechtfertigung einher. Die traditionelle Gesellschaft tradiert ihre Kultur "uber mehrere Generationen unver"andert; Begrifflichkeiten, Werte und Normenbegr"undung wandeln sich ausserordentlich langsam und sind deshalb "uber grosse Zeitr"aume weitgehend stabil. Ja, die Stabilit"at von Begriffen und Werten ist selbst ein Wert der traditionellen Gesellschaft.
Auch in der traditionellen Gesellschaft werden Beobachtungen, Entdeckungen und Erfahrungen gemacht, die "uber den "uberlieferten Erfahrungsraum hinausgehen. Solange sie durch geringf"ugige "Anderungen von Begriffen integriert werden k"onnen und auf die "Anderung einzelner Begriffe beschr"ankt bleiben, wird dies die traditionelle Gesellschaft nicht "andern. Zu ihrem zeitlichen Ende hin treten aber in der traditionellen Gesellschaft "Anderungen auf, wenn grundlegende Begriffe ge"andert werden und in der Folge davon zunehmend weitere Begriffe ge"andert werden m"ussen, um eine innere Konsistenz der Erkl"arungen des Erfahrungsraumes zu erreichen. Dann wandeln sich auch Normen. Insbesondere gilt es dann nicht mehr als akzeptabel, Begriffe, Werte und Normen stabil zu halten. Stabilit"at — im philosophischen Sinne — gilt nun nicht als ein w"unschenswerter Wert. «"Anderung“ wird mehr und mehr zu einem angestrebten Wert. Das scheint unmittelbar plausibel, weil dann, wenn neue Erfahrungen oder neue Erweiterungen des Erfahrungsraumes zwingen, auch die erkl"arenden Begriffe und die bewertenden Normen zu "andern, und insbesondere, wenn die Begriffe, die von den bereits ge"anderten grundlegenden Begriffen nachrangig abh"angig sind, ihrerseits ge"andert werden m"ussen, um Inkonsistenzen der Erkl"arung zu vermeiden, dann liegt das einzige stabilisierende Verhalten der Verstehensgemeinschaft Nachkorrigieren und "Andern von Begriffen und Werten: Das «"Andern“ und die «Bereitschaft zum Umdenken“ werden stabilisierende Werte. Dann aber befinden wir uns bereits auf dem Weg zu einer «posttraditionellen Gesellschaft“.
Die posttraditionelle Gesellschaft ist – philosophisch gesehen – eine Kulturform, die in einem engen Zeitraum von wenigen (100–150) Jahren die vollst"andige Umstellung eines Erkl"arungskonzeptes von Welt vollzieht – und zwar f"ur alle Existenzbereiche, die als erkl"arenswert angesehen werden. Dabei wird auf einen Teilbereich des bisherigen Erfahrungsraumes verzichtet, und es bleiben Ph"anomene, die man zuvor mit dem alten Erkl"arungskonzept erkl"aren konnte, unerkl"art. Das neue Erkl"arungskonzept einer zuk"unftigen traditionellen Gesellschaft wird in der posttraditionellen Gesellschaft vorbereitet, und die Zeit der posttraditionellen Gesellschaft markiert den "Ubergang von einem fr"uheren zu einem vollst"andig neuen Erkl"arungskonzept.
Es ist die Aufgabe der posttraditionellen Gesellschaft, die in Inkonsistenz geratenen Erkl"arungskonzepte f"ur die vorhandenen Erfahrungen in einen neuen stabilen Zustand, d.h. zu neuen Erkl"arungskonzepten zu f"uhren.
Damit ist die posttraditionelle Gesellschaft davon gepr"agt, dass kein einheitliches Erkl"arungskonzept akzeptiert wird, wohl aber eine Vielzahl von Versuchen, Konsistenz zwischen Erkl"arung und Erfahrungen zu schaffen, nebeneinander existieren.
Es ist deshalb auch eine gr"ossere Toleranz gegen"uber ausgefallenen Konzepten notwendig und "ublich. Damit geht einher, dass es nur einen geringen Konsens "uber allgemein g"ultige Erkl"arungen und Werte gibt. Wenn es ihn gibt, dann nur in soziologisch umschreibbaren engen Gruppen. Nur f"ur wenige Fragestellungen haben diese Gruppen eine Identit"at. Die "ubrigen Erkl"arungen und Werte werden von den einzelnen Mitgliedern einer Verstehensgemeinschaft in der posttraditionellen Gesellschaft nicht immer als konsistent erlebt. Begriffe und damit die Erkl"arungskonzepte wandeln sich st"andig. Bildungssysteme k"onnen bereits w"ahrend ihrer Entwicklung und Modifikation veralten. Der Begriffs–und Wertewandel akzeleriert.
Die Tradierung von Wissen und Bildung wird nicht mehr "uber mehrere Generationen gef"uhrt, sondern kann sich punktuell in der gleichen Generation zu unterschiedlichen, ja sich ausschliessenden Konzepten wandeln.