Unser zentrales Instrument zur Beschreibung des Strukturwandels in der philosophisch erfassten posttraditionellen Gesellschaft ist f"ur den Philosophen der Begriff, der f"ur einen Augenblick das Gef"uge aus Erfahrung, Handeln und Erkl"aren festh"alt. Auf ihm beruht unser Wissen und aus ihm folgt unser Handeln, wie er seinerseits auf unserem Vorwissen und unserem fr"uheren Handeln beruht. Mit unserem Handeln verbinden wir Wertungen, die wir entweder unmittelbar mit diesem Handeln verbinden, oder die wir in der Reflexion mit einem m"oglichen und projektierten Handeln verbinden wollen. Unter Umst"anden ist uns unmittelbar einleuchtend, eine Handlung zu begehen oder zu unterlassen. Unter Umst"anden wird uns dies aber auch erst nach einer l"angeren und ausf"uhrlicheren Reflexion oder auch Kommunikation einleuchtend und erstrebenswert. Sowohl bei unmittelbarer als auch bei mittelbarer Adaptation von Bewertungen mit Handlungen oder Handlungsfolgen verbinden wir die Werte mit Schemata, die unser Handeln steuern. Mit den einzelnen Begriffen, auf denen Schemata beruhen, verbinden wir ja Werthaltungen. Selbst wenn wir auf Grund einer Gesinnungsethik unsere moralischen Massst"abe entwickeln, kann das doch nur geschehen, weil diese Wertmassst"abe im Kontext mit unserem Weltverst"andnis fest mit Schemata verbunden. Sie sind Teil unserer Begriffe, die unseren Erfahrungsraum erkl"aren und unser Handeln steuern. Mit dem Begriff verbinden wir einen expliziten Bedeutungsgehalt, der uns eine Zuordnung an einen materialen Referenten markiert, einen impliziten Bedeutungsgehalt, der uns sagt, welche Kontexte mit dem expliziten Bedeutungsgehalt gemeint sind oder gemeint sein k"onnen. Der Kontext referenziert auf eine Abstraktionsgeschichte des Begriffs, insofern bei Begriffen zun"achst unmittelbare Handlungszusammenh"ange gemeint sind, und dann in einer Anwendungsgeschichte "Ubertragungen dieser Zusammenh"ange vorgenommen werden, wobei der Begriff von dem urspr"unglichen Kontext abstrahieren mag. Damit verbunden liegt im Begriff, eine Werthaltung vor. Diese Werthaltung kann an den urspr"unglichen Erkl"arungskontext gebunden sein, oder auch an eine sp"atere Verwendungsgeschichte des Begriffs. Die Werthaltung mag an den expliziten oder den impliziten Bedeutungsgehalt gebunden sein; sie mag bei einem bestimmten Begriff ver"anderbar oder unver"anderbar sein. In jedem Fall sind alle Begriffe emotiv "uber diese Werthaltung gebunden. Je st"arker die Werthaltung an einen expliziten Bedeutungsgehalt gebunden ist, um so weniger ist der Begriff ver"anderbar und umso folgenschwerer f"ur das gesamte Weltbild einer Gesellschaft sind "Anderungen an diesem Begriff, dessen expliziter Bedeutungsgehalt unmittelbar mit einer Werthaltung verbunden ist.
In der philosophisch als traditionell aufgefassten Gesellschaft sind die Wertungen in hohem Masse feststehend und auch an bestimmte Bedeutungsgehalte gebunden. Verschiebungen der Wertungen finden selten statt. Ethische Normen, nach denen sich unsere moralischen Massst"abe, d.h. unsere Regeln f"ur unser Handeln orientieren, sind fest mit den Schemata verbunden. Die posttraditionelle Gesellschaft wird dadurch charakterisiert, dass der Wandel von Bedeutungsgehalten und Werthaltungen von Begriffen nicht in grossen Zeitskalen geschieht, wie in der traditionellen Gesellschaft, sondern akzelerierend erfolgt – und zwar so schnell, dass eine langfristige G"ultigkeit von Werten und Bedeutungsgehalten von Begriffen nicht mehr erlebt wird.
Normen kollabieren unter diesen Bedingungen schliesslich rasch; niemand vermag sie mehr als dauerhaft geltend und bindend zu erleben. Da aber ohne Werthaltung niemand verstehen und niemand handeln kann, werden individuelle Substitute f"ur die begrifflichen Werthaltungen gesetzt, f"ur die ein gesellschaftlicher Konsens aber nicht erreicht werden kann. Dies hat meist auch soziale Verwerfungen in der Gesellschaft zur Folge.
Da in der posttraditionellen Gesellschaft die Dynamik und der Wandel selbst zu einem Wert wird, wird es sogar dazu kommen, dass der Wertewandel als ein Wert angesehen wird: Der Tabubruch wird zum Wert der posttraditionellen Gesellschaft. Die Kultur, die zuvor Tr"ager einer konsenten Erkl"arung und Bewertung in der traditionellen Gesellschaft war, wird nun in der posttraditionellen Gesellschaft davon gepr"agt, dass sie im Tabubruch die Geltung noch bestehender und u. U. nicht mehr koh"arenter Werte bewusst macht und einer expliziten Reflexion unterzieht — wie Filmindustrie und Literatur heute augenf"allig machen. Die technischen und naturwissenschaftlichen Neuerungen, die auch mit dem Begriffswandel in der posttraditionellen Gesellschaft einhergehen, haben zus"atzlich zur Folge, dass Wertsetzungen und Werthaltungen mit den (neuen) Begrifflichkeiten des ver"anderten Erfahrungsraums kollidieren. Die Anwendung von ansonsten akzeptierten ethischen Normen wird dann zu einem Problem, wie wir z. B. in der Medizin und der Gen–und Biotechnologie heute erleben.