Einzelne Begriffe sind normalerweise dabei immer ohne gr"ossere R"uckwirkungen auf den Konsens wandelbar, weil ihre Ver"anderung kommuniziert werden kann. Aber das Gros der Begriffe, zumindest aber sehr grundlegende Begriffe, deren "Anderungen wertreichende Bedeutung f"ur das Verstehen von Welt h"atte, verhalten sich tr"age gegen"uber Ver"anderungen. Ihre Ver"anderungen werden von der Community nicht problemlos akzeptiert. Durch diese nur in mittleren Zeitskalen ver"anderbaren Begriffen, an denen fast alle Mitglied einer Verstehensgemeinschaft teilhaben, kann man so etwas wie Rahmenbedingungen f"ur ein m"ogliches Verstehen von Welt, das einer Gesellschaft zur Verf"ugung steht, konstatieren. Da das spezielle Begriffsgef"uge, das zur Verf"ugung steht, das Verstehen in der Gemeinschaft beschr"ankt, kann und wird nicht jederzeit von einer Gesellschaft jeder m"ogliche Gedanke gedacht werden, sondern nur die, die im Kontext der in einer Zeit genutzten Begriffsgef"uge formulierbar sind.
Jeder Strukturwandel einer Gesellschaft gr"undet im Wandel der dem Weltverst"andnis in der Gesellschaft zugrundeliegenden Begriffsgef"uge und damit der Handlungen, die aus diesem Weltverst"andnis abgeleitet werden. So kann man durch eine philosophische Untersuchung den Status des Verstehens einer Gesellschaft konstatieren, indem man die Ver"anderungen der Begriffe und ihres Kontextes untersucht, nach Gesetzm"assigkeiten forscht, die hinter den Ver"anderungen der Begriffsgef"uge stehen, und dann m"ogliche zuk"unftige Entwicklungen der Begriffsgef"uge vorhersagen.
Die Gegenst"ande jeder philosophischen Untersuchung des gesellschaftlichen Wandels sind daher die grundlegenden Begriffe einer Zivilisation, deren Wandel eine tiefgreifende "Anderung des Weltverst"andnisses, der Orientierung in der Welt und der Wertungen des Handelns nach sich zieht. Wenngleich dieser Wandel in den meisten historischen Zeiten kontinuierlich, nur f"ur den aufmerksamen Beobachter merklich ist, und mit geringen Ver"anderungen geschieht, so gibt es doch immer wieder historisch hervorragende, relativ kurze Zeitr"aume (100 bis 150 Jahre), in denen akzelerierend Begriffe und damit Weltverst"andnisse ge"andert werden und die zu einer weitgehend neuen Sicht der Welt und damit neuen Begriffsgef"uge f"uhren. Diesen Wandel bezeichne ich als den "Ubergang von einer traditionellen Gesellschaft zu einer posttraditionellen Gesellschaft.[7]
Diese posttraditionelle Gesellschaft ist eine transeunte und sehr labile Kulturform, die, wenn sie zu ihrem Ende hin zu einer in sich gef"ugten stabileren Gesellschaftsform gef"uhrt hat, wieder zu einer nun neu gef"ugten traditionellen Gesellschaft f"uhrt.
Wir leben heute in einer solchen posttraditionellen Gesellschaft und ihr Studium kann uns zu einer erh"ohten Aufmerksamkeit f"ur die Entwicklungsm"oglichkeiten auf eine zuk"unftige traditionelle Gesellschaft hin f"uhren.
Der gesellschaftliche Wandel, von dem im folgenden die Rede sein soll, hat sich in der Geschichte des Abendlandes zweimal vollzogen und ist zur Zeit wieder im Gange: Diese historischen posttraditionellen Phasen sind die Sp"atantike und die Renaissance. Die traditionellen Phasen sind also vom Typ der antiken Gesellschaft, der mittelalterlichen Gesellschaft und der Gesellschaft der Neuzeit.
Traditionelle Gesellschaften wandeln sich demnach durchaus, aber so, dass ihr grunds"atzliches Weltverst"andnis in kleinen Zeitr"aumen nicht wesentlich ge"andert wird. Kriegerische, wirtschaftliche Ereignisse und epidemische Krankheiten k"onnen in der traditionellen Gesellschaft zu gravierenden soziologischen Verwerfungen f"uhren, sie "andern jedoch nichts an der Stabilit"at der Begriffsgef"uge und daran, dass die Gesellschaft «philosophische Stabilit"at“ beh"alt.
Stabil ist die traditionelle Gesellschaft, im philosophischen Sinne, weil die Art, wie die Welt erkl"art wird, welche Fragen man an die Welt stellt oder welches Wissen man "uber sie hat, unver"andert bleibt, und weil der Erfahrungsraum, die Summe der Erfahrungen, die der Welterkl"arung zugrunde liegen, "uber jedem kleineren Wandel unver"andert bleiben und deshalb auch das Handeln der Einzelnen und der Gesellschaft in einem "ahnlichen Rahmen verbleibt.
Unver"andert bleibt dies, weil die grundlegenden Begriffe unver"andert bleiben, und dies geschieht, weil das Gef"uge von Welterkl"arung und Erfahrung sowie Handeln konsistent bleibt und keine nennenswerten Widerspr"uche oder Unentscheidbarkeiten im Handeln auf Grund der Erkl"arung der Erfahrung auftreten. Die Menschen empfinden ihr Verhalten dann als nicht mit ihrem Wissen konfligierend.