Vor ihrem inneren Auge entstanden Visionen von aufschnappenden Falltüren, unter denen bodenlose Abgründe lauerten. Sie versuchte sie dorthin zurückzuscheuchen, wo sie hergekommen waren, nahm die Hand von der fremden Waffe und zog statt dessen ihren Dolch aus dem Gürtel – ein Zahnstocher gegen einen Drachen. Trotzdem fühlte sie sich spürbar wohler, als sie das glatte Eisen des Dolchgriffes in der Hand spürte.
5
Der Weg nahm kein Ende. Tally verlor ihr Zeitgefühl, irgendwo in einem der endlosen, nur ganz sanft gekrümmten und fast unmerklich ansteigenden Gänge. Sie wußte nicht mehr zu sagen, ob es eine Stunde war, wenige Augenblicke, oder eine Ewigkeit, die sie durch den Turm gingen. Das dumpfe Rauschen und Brausen begleitete sie, und manchmal glaubte sie einen leisen, aber sehr mächtigen Rhythmus in diesem Geräusch zu erkennen. In diesen Augenblicken erinnerte es sie an Atemzüge, an das sehr langsame, mächtige Atmen von irgend etwas Gigantischem.
Natürlich war es nicht da. Der Gang war leer, nur von Staub und dem sonderbaren leuchtenden Bewuchs erfüllt. Die Wände strömten einen unangenehmen Geruch aus, und die Luft schmeckte nach altem Eisen. Alle vier-, fünfhundert Schritte gelangten sie an eine Tür, als hätten die Erbauer dieses gewaltigen Turmes aus irgendeinem Grund dafür sorgen wollen, den Gang in möglichst viele voneinander unabhängige kleine Sektionen zu unterteilen.
Es gab auch noch andere Türen, die ausnahmslos auf der linken Stollenseite lange und offensichtlich in Räume hineinführten, die in die Wände des Turmes eingelassen waren, wie Luftblasen in Bernstein. Aber sie waren ausnahmslos verschlossen, und Tally schüttelte hastig den Kopf, als Hrhon sich erbot, eine davon aufzubrechen. Sie waren Eindringlinge und keine willkommenen Gäste. Vielleicht war es besser, wenn sie nicht mehr Lärm machten, als unbedingt nötig war.
Dann fanden sie die zweite Tote.
Sie waren durch eine weitere Tür getreten, wie immer Hrhon als erster, gefolgt von Tally und Essk, die den Abschluß bildete, aber statt des erwarteten Schneckenganges erhob sich vor ihnen eine schier endlose, sehr steil in die Höhe führende Treppe.
Auf den untersten Stufen lag eine Frau.
Tally fuhr überrascht zusammen und wollte sich an Hrhron vorbeidrängen, aber der Waga schob sie einfach zurück, zischelte irgend etwas, das Tally nicht verstand, und war mit zwei, drei überraschend gehenden Schritten bei der reglosen Gestalt, um sie rasch, aber sehr gründlich zu untersuchen – etwas, das ganz und gar überflüssig war, wie Tally befand. Wenn sie jemals eine Tote gesehen hatte, dann
Ihr Herz begann vor Aufregung schneller zu schlagen, als sie selbst neben der Toten niederkniete. Die Frau war wesentlich älter als das tote Mädchen draußen auf der Brücke, alt genug, um ihre Mutter sein zu können. Ihr Haar, das sehr kurz geschnitten war, begann bereits grau zu werden, und ihr im Tode bleich gewordenes Gesicht war von tiefen Linien durchzogen, ohne dadurch direkt häßlich zu wirken. In ihren erloschenen Augen schien noch ein Ausdruck ungläubigen Schreckens zu stehen. Ihre rechte Hand umklammerte die gleiche sonderbar geformte Waffe, wie sie Tally bei der Toten draußen gesehen und an sich genommen hatte. Der Leichnam verströmte einen ganz sachten, aber unangenehmen Geruch. Unter dem Kopf war ein häßlicher braunroter Fleck, ebenso wie auf der Stufe darüber, und der nächsten und übernächsten.
Tallys Blick folgte der eingetrockneten Blutspur, bis sie sich im grünen Dunst des Ganges verlor. Es war nicht sehr schwer zu erraten, was geschehen war: die Frau und das junge Mädchen draußen hatten offensichtlich zusammengehört, aber während das Mädchen und die Hornköpfe herausgekommen waren, um nach den unwillkommenen Besuchern zu sehen, war diese Frau zurückgelaufen, um – ja, um was zu tun? dachte Tally. Instinktiv irrte ihr Blick zum oberen Ende der Treppe. Sie sah nur grünes Licht, in dem sich die Stufen wie in leuchtender Säure aufzulösen begannen. Nun, gleich wie – sie hatte es wohl ein wenig
»Unsinn«, sagte Tally unwillig. »Die beiden waren allein, Flachkopf! Wäre es anders, wären wir wohl kaum noch am Leben, oder?«