Als sie sie endlich erreicht hatten, brach die Nacht herein.
Es war ein bizarrer Anblick: Der Schatten der Klippe, nun mehr als hunderfünfzig Meilen lang, wanderte wie eine Mauer aus Schwärze über das Land, verschlang den Wald, das lächerliche kurze Stück freien Geländes, das sie bisher zurückgelegt hatten, und schließlich auch ihr Versteck. Es wurde so dunkel, daß sie selbst Hrhon nur noch als verschwommenen Schatten erkennen konnte, obwohl er unmittelbar neben ihr saß.
Eine Zeitlang saßen sie einfach reglos da, still, jede für sich in seine eigenen, düsteren Gedanken versunken. Tally hätte erleichert sein müssen, denn das Allerschlimmste lag hinter ihnen; die größte Gefahr, die diese Welt bieten konnte, war überwunden. Aber sie spürte nichts als Mutlosigkeit.
Schließlich war es Angella, die das Schweigen brach.
»Wir sollten Wachen aufstellen«, sagte sie matt. Wie zur Antwort erscholl aus der Nacht ein schrilles, mißtönendes Kreischen, noch sehr weit entfernt, aber unzweifelhaft von etwas sehr Großem ausgestoßen.
Überhaupt war die Nacht nicht still: überall raschelte und polterte es, da waren Geräusche wie Schritte, etwa, das sie an das Schleifen schwerer horniger Körper auf hartem Fels erinnerte, und andere Laute, von denen sie gar nicht wissen wollte, was sie wirklich bedeuteten. Tally versuchte sich einzureden, daß es nur der Wind war, der sie narrte.
»Dasss mache isss«, erbot sich Hrhon. Tally hörte, wie er aufstand und sich entfernte. Ihr schlechtes Gewissen meldete sich. Hrhon war ungeheuer zäh – fünfzigmal so stark wie ein Mensch und sicher auch ebenso leistungsfähig, aber er hatte – wie so oft – die Hauptlast der letzten Tage getragen; im wahrsten Sinne des Wortes. Mehr als einmal hatte er Angella und sie über Meilen hinweg auf der Schulter getragen, wenn ihre Kräfte versagten und ihre Beine sich einfach weigerten, sich immer wieder aus dem klebrigen Sumpf zu lösen. Er hatte sie getragen, wenn sie schlafen wollten, oder wenn Karan – ohne einen Grund dafür anzugeben – plötzlich darauf bestand, einen bestimmten Ort sehr schnell wieder zu verlassen. Auch ein Waga brauchte von Zeit zu Zeit Ruhe, um sich zu erholen. Sie würde ihn umbringen, wenn sie ihn weiterhin so unbarmherzig antrieb. Aber sie war viel zu müde, um der Stimme ihres Gewissens nachzugeben.
»Weck mich in zwei Stunden!« rief Angella ihm nach.
»Ich löse dich dann ab. Oder besser in drei.«
Hrhon zischelte eine Antwort und verschwand vollends in der Nacht. Die Geräusche der Wüste verschluckten seine Schritte.
»Immer noch die starke Angella, wie?« fragte Tally spöttisch. »Hast du immer noch nicht genug? Oder kannst du einfach nicht anders?« Sie verstand selbst nicht genau warum sie das sagte – es wäre an
»Du hast recht«, antwortete Angella. Ihre Stimme klang sehr ernst. »Ich kann wirklich nicht anders. Es ist nicht meine Art, die im Stich zu lassen, die mir geholfen haben.«
Tally fuhr zusammen wie unter einem Hieb. Angellas Worte taten weh, sehr weh. Und Angella schien zu spüren,
»Es tut mir leid«, sagte sie. »Das wollte ich nicht.«
»Ich auch nicht.« Tally lächelte, obwohl sie wußte, daß Angella es nicht sehen konnte.
»Was?«
»Das vorhin. Du hast vollkommen recht – Hrhon ist am Ende. Ich muß ihn ein wenig schonen.«
Angella lachte leise. »Wozu? Bildest du dir wirklich ein, einer von uns käme lebend hier heraus? Das schafft niemand.«
»Karan hat es geschafft«, erinnerte Tally.
»Karan!« Angella schnaubte abfällig. »Karan war ein... ein
»Warum bleibst du dann bei mir?« fragte Tally matt. Sie hatte keine Lust, zu streiten, schon gar nicht mit Angella.
»Eine gute Frage«, erwiderte Angella böse. »Vielleicht, weil ich sehen will, wie du endlich krepierst, Schätzchen.«
»Das hättest du einfacher haben können«, sagte Tally böse. Sie drehte sich mit einem Ruck herum, legte den Kopf gegen den noch warmen Fels und schloß die Augen. »Laß micht jetzt in Ruhe«, fuhr sie fort. »Ich will schlafen. Du kannst mich drei Stunden vor Sonnenaufgang wecken. Oder besser zwei.«
Angella schnaubte eine Antwort, die Tally nicht verstand, und kroch wieder zu ihrem Platz zurück.