»Ich bin noch da«, antwortete Angella. Ihre Stimme klang gepreßt. »Keine verfrühte Freude, Tally. So schnell wirst du mich nicht los.«
»Damit wäre die Frage beantwortet, wo wir sind«, sagte Tally ruhig. »Wir –«
»Sss!« zischte Hrhon. »Etwasss khohmmt!«
Sie erstarrten zur Reglosigkeit. Tally lauschte gebannt. Im ersten Moment hörte sie nichts außer dem dumpfen Rauschen ihres eigenen Blutes und den schnellen Atemzügen der drei anderen, aber sie wußte, daß der Waga über viel schärfere Sinne verfügte als ein Mensch, und verhielt sich weiterhin ruhig. Und nach einer Weile hörte sie es auch: Irgend etwas kroch durch die Baumwipfel. Etwas Großes, etwas sehr, sehr Schweres, das sich rücksichtslos Bahn brach, dem Splittern von Holz nach zu schließen.
Ihr Herz begann zu hämmern. Der Boden, auf dem sie hockte, vibrierte jetzt ganz sacht, und obwohl sie sich gegen die Erkenntnis zu wehren versuchte, mußte sie nach einer Weile gestehen, daß er im Rhythmus der Schritte – oder was immer es war – erzitterte.
Das unsichtbare Ding kam näher. Das Splittern wuchs zu einem ungeheuren Bersten und Krachen an, als walze eine ganze Armee von Hornbestien neben ihnen durch den Wald, und plötzlich spürte Tally einen scharfen, unendlich fremden Geruch, der bald so intensiv wurde, daß er zur Übelkeit reizte.
»Ein Läufer!« keuchte Karan plötzlich. »Bei allen Dämonen der Tie –«
Der Rest seiner Worte ging in einem urgewaltigen Splittern und Bersten unter. Tally fühlte sich wie von einer unsichtbaren Faust gepackt und in die Höhe gerissen. Dann streifte irgend etwas, das mindestens so groß sein mußte wie die Klippe den Baum, kippte ihn halb um und überlegte es sich im letzten Moment anders. Der Boden tief unter ihnen zitterte, und Tally spürte das machtvolle Aufstampfen von mindestens einem Dutzend Beinen.
Aber sie hatte noch einmal Glück. Nach einer Ewigkeit, die in Wahrheit wohl nur Sekunden gedauert hatte, wurde das Bersten und Krachen leiser; die Welt hörte auf, wie betrunken auf und ab zu schwanken. Trotzdem blieb Tally, an den erstbesten Halt geklammert und zur Reglosigkeit erstarrt, noch eine geraume Weile sitzen, ehe sie es wagte, wenigstens den Kopf zu heben.
»Hrhon?« fragte sie. »Alles in Ordnung?«
»Ja«, antwortete Hrhon – mit einer Stimme, die verriet, daß ganz und gar
»Karan?«
»Karan lebt noch«, antwortete Karan. »Aber es war nur Glück.«
»Gut«, sagte Tally erleichtert. »Was... was war das, um Himmels willen?«
»Ein Läufer«, antwortete die Stimme aus der Dunkelheit. »Der größte Bewohner des Schlundes, den Karan kennt. Er und ihr hattet Glück. Sie sind gefährlich und böse, aber Menschen sind zu klein, eine lohnende Beute für sie zu sein.«
»Oh«, sagte Tally nur.
»Danke, ich lebe auch noch«, meldete sich Angella.
»Eure Sorge ist rührend, aber unbegründet.«
»Wovon leben die Läufer, wenn ein Mensch als Beute für sie zu klein ist?« fragte Tally vorsichtig.
»Von anderen Wesen«, antwortete Karan. »Solchen, die Menschen sehr wohl fressen. Und die gute Ohren haben.«
»Oh«, sagte Tally noch einmal. Und das war das letzte Wort, das sie oder einer der anderen für eine geraume Weile sprach.
Trotzdem wurde es nicht still. Das Splittern und Bersten des Läufers war noch lange zu hören, und auch der Wald war nicht still – über ihnen, in den unsichtbaren Wipfeln, rauschte der Wind, und auch aus der Tiefe drang ein gedämpftes, unablässiges Murmeln und Flüstern zu ihnen herauf... Es war ein unheimlicher, angstmachender Laut. Wenn Tally lange genug hinhörte, dann glaubte sie fast so etwas wie ein wirkliches Flüstern darin zu erkennen. Eine Stimme, die ihr auf entsetzliche Weise gleichermaßen fremd wie sehr vertraut erschien – und die ihren Namen zu flüstern schien.
Natürlich war das Unsinn, wie sie sehr wohl wußte. Es war nur ihre eigene Angst, die sie Dinge hören ließ, die nicht da waren. Sie verscheuchte die Vorstellung endgültig, zog die Knie an den Körper und unterdrückte ein Schaudern. Ihr war kalt, obwohl der sonderbar weiche Boden unter ihr eine angenehme Wärme ausstrahlte. Fast, ohne es selbst zu merken, rutschte sie ein Stückchen näher an Angella heran, bis ihre Schulter deren Brust berührte.
Angella lachte leise. »Angst, Liebling?«
»Ja«, gestand Tally. Die Verärgerung, mit der sie Angellas Worte erfüllen sollten, kam nicht. »Du etwa nicht?«
»Ich weiß nicht«, antwortete Angella. »Noch nicht.« Sie seufzte. »Ich glaube, ich sollte Angst haben. Aber ich habe mich noch nicht entschieden, vor wem ich mehr Angst habe – vor dem Schlund oder dir.«
»Ich bin nicht dein Feind«, antwortete Tally. »Wäre es nach mir gegangen, hätten wir keinen Streit.«
»Manchmal kommt es eben anders«, sagte Angella achselzuckend. »Nicht? Du bist eine gefährliche Frau, Tally. Und du hast noch gefährlichere Feinde.« Tally spürte, wie sie den Kopf schüttelte. Sie seufzte. »Woher kennst du Jandhi?«
»Ich kenne sie nicht«, erwiderte Tally.
»Dann frage ich mich, warum sie so scharf darauf war, dich mitzunehmen.«