Der Boden war kein Boden, sondern ein erschreckend dünnes Geflecht von Ästen, ineinandergewachsenen Luftwurzeln und Blättern, ein riesiges Netz, das fest genug gewesen war, den stürzenden Gleiter aufzufangen, in dem aber gewaltige Löcher gähnten. Sie mußten ein ganzes Batallion erstklassiger Schutzengel auf ihrer Seite gehabt haben, daß während der Nacht keiner von ihnen in eine dieser Fallgruben gestolpert und in die Tiefe gestürzt war.
«Kommt her«, sagte Karan müde. »Karan zeigt euch einen sicheren Weg. Es ist nicht so gefährlich, wie es aussieht.« Er versuchte sogar zu lächeln, aber es gelang ihm nicht ganz. Als Tally näher kam, sah sie, daß sein Gesicht grau geworden war. Dann fiel ihr auf, wie unnatürlich er den linken Arm hielt.
»Was ist mit dir?« fragte sie erschrocken. »Du bist verletzt!«
»Das ist nichts«, antwortete Karan. »Es wird heilen. Jetzt kommt und folgt Karan.«
Er wollte sich umwenden und davongehen, aber Angella vertrat ihm rasch den Weg, riß ihn grob an der Schulter herum und griff nach seinem Arm. Karan keuchte vor Schmerz, als sie sein Handgelenk berührte.
»Der Arm ist gebrochen«, stellte Angella fest. »Und du sagst, das ist nichts?« Sie sah Karan vorwurfsvoll an und schüttelte den Kopf. »Hier unten kann dieses
»Karan wußte, daß er sterben wird, wenn er hierher zurückkehrt«, antwortete Karan, sehr leise, aber mit sehr großem Ernst. »Es spielt keine Rolle. Vielleicht... vielleicht ist es sogar gut so. Und nun kommt, ehe ihr zu Beute werdet.«
Er löste seinen Arm mit sanfter Gewalt aus Angellas Griff, sah sich suchend um und deutete in die Richtung, in der sich der zerschmetterte Gleiter als weißer Schemen in der ewigen Dämmerung erhob. »Dorthin.«
»Was ist dort?« fragte Tally.
»Norden.« Karan nickte, um seine Worte zu bekräftigen. »Du wolltest nach Norden, oder?«
»Woher willst du das wissen?« fragte Angella mißtrauisch. »Es kann genausogut Süden sein, oder Westen oder Osten.«
»Es
Wieder wollte er losgehen, aber diesmal war es Tally, die ihn zurückhielt. »Einen Moment noch, Karan«, sagte sie. »Was soll das? Wir hatten vereinbart, Weller zu suchen, und –«
»Niemand hat das vereinbart«, unterbrach sie Karan.
»Du hast es gesagt, aber es ist unmöglich.«
Er blickte sie einen Moment ernst an, aber etwas in ihrem Gesicht schien ihm zu sagen, daß sich Tally mit dieser Erklärung allein nicht zufrieden geben würde; denn nach einem weiteren Augenblick seufzte er, wandte sich um und ging an Tally vorbei bis zu einer der gewaltigen Lücken im Netzboden. »Komm.«
Tally zögerte. Allein die Airstellung, sich dem gewaltigen Schlund zu nähern, erfüllte sie mit Entsetzen. Dann überwand sie ihre Furcht und trat, wenn auch sehr vorsichtig, neben ihn. Angella und Hrhon folgten ihr. Ein Schwall feuchtwarmer, nach Fäulnis riechender Luft schlug ihnen entgegen. Unter ihnen, entsetzlich
Tally schätzte, daß sie mindestens hundert Meter hoch waren. Es war ein bizarrer Anblick: sie standen buchstäblich im Nichts, achtzig oder mehr Manneslängen über dem Boden, im Herzen eines ungeheuerlichen, vor Leben schier überquellenden Waldes – aber unten ihnen war nichts. Nichts als eine Kathedrale aus Schwärze, in der die blattlosen Stämme der Riesenbäume wie titanische Stützpfeiler aufragten. Das Leben hatte den Waldboden geflohen und sich auf eine zweite, höher – und sicherer – gelegene Ebene zurückgezogen. Der Anblick war unglaublich niederschmetternd. Unter ihnen war Wald, der Urquell allen Lebens, aber etwas hatte ihn in das genaue Gegenteil davon verwandelt.
»Großer Gott«, murmelte Angella. »Wie hoch sind diese Bäume, Karan?«
»Sehr hoch«, antwortete Karan. »Über euch noch einmal so hoch wie unter euch. Dort unten ist der Tod, Angella. Wenn Weller dort hinabgestürzt ist, lebt er nicht mehr. Nichts lebt dort unten.«
Angella schauderte sichtlich, beugte sich aber trotzdem neugierig vor und blinzelte in die Tiefe hinab. »Was ist das?« murmelte sie. »Ein Sumpf?«
Karan nickte. »Auch das«, sagte er. »Karan war nur ein einziges Mal dort unten, und er hat...« Er zögerte, sehr lange, und als er weitersprach, hatte Tally das sichere Gefühl, daß er in Wahrheit etwas ganz anderes hatte sagen wollen. »Er hat großes Glück gehabt, davonzukommen. Nichts lebt dort unten, außer den Läufern und den Bäumen.« Er sah Tally an. »Weller ist tot. Und auch du wirst sterben, wenn du ihn suchen willst, dort unten.«