Der Hornkopf blockierte den Eingang noch immer, aber über seinen Rücken hinweg tasteten bereits armdicke glänzende Dinge, und plötzlich erscholl ein fürchterliches, mahlendes Geräusch; der Schädel des Hornkopfes brach ab und kollerte ein Stückweit auf Tally zu, und über seinen zerborstenen Panzer hinweg krabbelte eine zwei Meter lange, spinnenähnliche Scheußlichkeit, bewaffnet mit gleich drei Schwertern und Mordlust in den Augen. Tally drückte ab.
Der Hornkopf verschwand, und mit ihm die Tür. Eine brüllende, weißglühende Feuerzunge schoß in den Treppenschacht hinauf, versengte alles, was lebte, und ließ Stein knackend zerspringen. Das kampflustige Pfeifen der Hornköpfe wandelte sich in einen Chor schriller Todesschreie.
Tally feuerte noch einmal, fuhr herum und stürmte hinter den anderen her. Der Boden unter ihren Füßen zitterte. Eine unsichtbare Hitzewelle folgte ihr, versengte ihren Rücken und ließ den Vorhang auflodern. Das Halbdunkel um sie herum wurde vom zuckenden Rot jäh aufflammender Brände vertrieben.
Der Gang endete nach weniger als einem Dutzend Schritten vor einem niedrigen, mit einer gewaltigen Metallplatte verschlossenen Durchgang. Von Weller und Jan war keine Spur mehr, aber Karan und der Waga erwarteten sie neben dem Fluchttunnel. Zum erstenmal, seit sie Karan kennengelernt hatte, war seine Selbstsicherheit erschüttert. Sein Blick flackerte, als er die Waffe in ihrer Hand sah.
»Tut mir leid«, sagte Tally lächelnd. »Ich mußte dein Haus ein wenig ansengen. Aber die Typen werden allmählich lästig.«
Karan blieb ernst. »Das macht nichts«, sagte er, und es hörte sich an, als meinte er es auch so. Er deutete auf den Stollen. »Geht dort hinein und lauft bis zur ersten Biegung. Dort wartet ihr auf Karan.«
Tally wollte widersprechen, zuckte aber dann nur mit den Achseln und duckte sich hinter Hrhon in den niedrigen Gang. Irgendwo vor ihnen glomm das trübe Auge einer Fackel, aber der Gang wäre auch sonst nicht dunkel gewesen – an den Wänden fluoreszierten die gleichen leuchtenden Schmierpflanzen, wie sie sie im Turm in der Wüste gesehen hatten. Tallys Hochachtung vor Karan stieg.
So schnell sie konnten, hielten sie auf die Fackel zu. Der Gang erweiterte sich nach wenigen Schritten, so daß auch Hrhon aufrecht gehen konnte und sie schneller vorankamen. Nach wenigen Augenblicken schlossen sie zu Jan und Weller auf, die vor der Gangbiegung halt gemacht hatten.
»Was ist passiert?« empfing sie Weller. »Wo ist Karan, und –« Er verstummte. Seine Augen wurden groß, als er die Waffe in Tallys Hand sah.
»Du... du hast mich belogen!« sagte er vorwurfsvoll.
»Habe ich das?«
Weller deutete auf Tallys Hand. »Du hast behauptet, du hättest sie verloren!« sagte er.
»Das stimmt auch«, erwiderte Tally ungerührt. »Du hast mich niemals gefragt, ob ich noch eine zweite besitze, oder?«
Weller schluckte hörbar, starrte Tally finster an und atmete tief ein, beließ es aber dann bei einem resignierenden Seufzen. »Hast du noch mehr solcher Überraschungen auf Lager?« fragte er.
Tally nickte. »Ja. Aber wenn ich sie dir verriete, wären es keine Überraschungen mehr, oder?« Sie lächelte kalt, drehte sich mit einem Ruck herum und sah zu Karan zurück, der nun ebenfalls nachkam; schnell, aber ohne zu rennen.
»Was hast du getan?« fragte sie.
»Nichts«, antwortete Karan. »Noch nichts. Aber sie werden Karans Haus nicht ungestraft angegriffen haben, das schwört er. Kommt mit. Karan braucht eure Hilfe.«
Sie gingen weiter. Der Gang führte für zehn, zwölf Schritte schräg nach oben und endete jäh vor einer nur drei Stufen zählenden Treppe, hinter der sich eine weitere, aus massivem Eisen errichtete Tür erhob. Karan löste einen kompliziert aussehenden Schlüssel vom Gürtel, sperrte das Schloß auf und winkte ihnen ungeduldig, nachzukommen.
Tally hatte mit einer Fortsetzung des Stollens gerechnet, vielleicht mit einem Kellerraum, einer Treppe – aber die Tür führte ins Freie hinaus. Über ihren Köpfen und an beiden Seiten erhob sich der in der Nacht schwarze Fels der Klippe, aber vor ihnen, nur ein halbes Dutzend Schritte entfernt, war das Nichts. Sie standen in einer nach Norden offenen Höhle.
Tally schauderte.
Aber der Alte gab ihr keine Gelegenheit, ihre Sorge in irgendeine Frage zu kleiden. Hastig schlurfte er zum Rand der Felsplatte, ließ sich auf ein Knie herabsinken und winkte Tally befehlend, ihm zu folgen. Mit klopfendem Herzen gehorchte sie.
Der Anblick war so, wie sie erwartet hatte – nur hundertfach schlimmer. Sie kniete über dem Nichts, aber anders als auf Karans Balkon gab es hier kein schützendes Geländer. Direkt unter ihr gähnte der Schlund. Zum allerersten Male in ihrem Leben begriff sie die wahre Bedeutung dieses Namens.
»Sieh!« Karans Hand wies schräg nach unten. Mit wild hämmerndem Herzen beugte sich Tally weiter vor und erkannte, daß sie sich nur wenige Meter oberhalb seines Hauses befanden. In der Schwärze der Nacht wirkte es mehr denn je wie ein Schwalbennest, das direkt an den Felsen geklebt worden war.