Und wie, um seine Worte zu unterstreichen, erscholl in diesem Moment zum zweiten Mal ein ungeheueres Krachen und Bersten vom oberen Ende der Treppe. Kalk und Staub und Steintrümmer polterten die Stufen herunter, gefolgt von einem schwarzen Alptraum aus schnappenden Kiefern und wie rasend wirbelnden Beinen. Es war Hrhon, der der Tür am nächsten stand, und es war auch Hrhon, der als erster reagierte. Mit einer Schnelligkeit, die selbst Tally verblüffte, fuhr er herum, stürmte dem Hornkopf entgegen und hob die Arme. Seine Faust fuhr mit vernichtender Kraft zwischen den zuschnappenden Mandibeln des Rieseninsekts hindurch, krachte auf seinen Schädel und zertrümmerte ihn. Der Hornkopf schlitterte noch ein Stück weiter, getragen vom Schwung seiner eigenen Bewegung, und brach tot in der Tür zusammen. Sein riesiger, schwarzglänzender Panzerleib ragte halb ins Zimmer hinein und blockierte den Durchgang. Aber nicht weit genug, daß Tally und die anderen nicht die schwarzglänzenden Ungeheuer erkennen konnten, die hinter ihm herangelaufen kamen. Weller fluchte ungehemmt, zog unsinnigerweise sein Schwert aus dem Gürtel und wich rückwärts gehend bis zur gegenüberliegenden Wand zurück. Auch Jan zog seine Waffe, während sein Vater weiter reglos stehenblieb. Nicht einmal auf seinem Gesicht zeigte sich irgendeine Reaktion auf den plötzlichen Überfall.
Aus dem Treppenschacht erscholl ein schriller, pfeifender Laut, und irgend etwas Schwarzes, Glänzendes, versuchte über den toten Hornkopf hinwegzukriechen und sich durch den schmalen Spalt zu zwängen, der zwischen seinem Rücken und der Decke blieb. Hrhon wartete, bis der Hornkopf wie ein Korken im Flaschenhals in der Lücke steckte. Dann erschlug er ihn. Aber Tally und die anderen wußten sehr wohl, daß sie nur Sekunden gewonnen hatten. Der kurze Blick, den sie in den Schacht hineingeworfen hatten, hatte gezeigt, daß er von Chitin erfüllt war.
Ein harter Ruck ging durch den Leib des erschlagenen Hornkopfes. Die erschlafften Antennen des Rieseninsektes erzeugten raschelnde, unangenehme Geräusche auf dem steinernen Boden, als der Kadaver ein Stückweit nach hinten gezerrt wurde.
»Halt sie auf, Hrhon!«, befahl Tally hastig. Während Hrhon mit einem kampflustigen Zischeln nach dem Schädel des toten Hornkopfes griff und sich mit aller Macht dagegenstemmte, wandte sich Tally an Karan:
»Gibt es noch einen Ausgang aus diesem Haus?«
Karan nickte. »Einen geheimen Gang direkt in die Wand hinein. Aber sie werden ihn finden. Es sei denn...«
»Es sei denn was?« fragte Tally ungeduldig, als Karan nicht weitersprach.
Aber der Alte antwortete nicht, sondern drehte sich mit einem Ruck herum und wies auf einen Vorhang, dicht neben der Stelle, an der Weller versuchte, sich in den gewachsenen Felsen hineinzupressen. »Dort entlang. Und schnell«, befahl er.
Die beiden letzten Worte wären kaum mehr nötig gewesen – Weller hatte den Vorhang bereits zur Seite gerissen und stürmte hindurch, noch bevor Karan sie vollends zu Ende sprechen konnte. Und auch Karan selbst und sein Sohn folgten ihm mit großer Hast, während sich Tally noch einmal zu Hrhon herumdrehte. Der Anblick war beinahe lächerlich – der Waga stemmte sich mit aller Kraft in den Boden und versuchte, den Kadaver des Hornkopfes festzuhalten, an dem unsichtbare Gewalten zerrten. Der Chitinpanzer des Rieseninsekts ächzte hörbar. Es konnte nur noch Augenblicke dauern, dachte Tally, bis das bizarre Tauziehen beendet war – einfach, weil der Hornkopf in Stücke gebrochen war.
»Hrhon!« befahl sie scharf. »Hierher!«
Der Waga gehorchte sofort. Der tote Hornkopf rutschte ein gutes Stück zurück und kam wieder zur Ruhe, zitternd und bebend, als wäre mit einem Male wieder Leben in ihm. Tally wechselte ihr Schwert von der Rechten in die Linke und streckte fordernd die freie Hand aus. Hrhon verstand sofort. Seine Linke verschwand in seinem Panzer, etwas knisterte, und Augenblicke später kam die Pranke des Waga erneut zum Vorschein. Aber die war nicht mehr leer, sondern hielt nun eine der schrecklichen Drachenwaffen, die sie im Turm erbeutet hatten.
Obwohl im Moment nichts so kostbar war wie Zeit, zögerte Tally sichtlich, danach zu greifen. Sie war sich der Gefahr durchaus bewußt, die sie einging, benutzte sie diese Waffe. Bei dem Kampf im Slum war das Risiko gering gewesen, und sie hatte nicht gewußt, gegen wen sie kämpfte. Jetzt aber... sie würde den Kampf auf ein neues Niveau ziehen, wenn sie Jandhi zeigte, mit welch harten Bandagen sie zu kämpfen bereit war.
Aber dann schob sie die Bedenken beiseite, gebot Hrhon mit einer Kopfbewegung, den beiden anderen zu folgen, und richtete die Waffe auf den Treppenschacht.