Tally hörte einen gellenden Schrei hinter sich, dann das Zischen einer Waffe. Sie federte zur Seite, setzte mit einem gewaltigen Sprung über Angella hinweg und rannte auf die Tür zu. Ein Dolch flog an ihr vorbei, bohrte sich in die Tür und blieb zitternd stecken. Tally fuhr mitten in der Bewegung herum, prallte gegen den Mann, der sie einzuholen versuchte, und rannte ihn kurzerhand nieder. Mit zwei, drei gewaltigen Schritten lief sie auf das Fenster zu, stieß sich mit aller Kraft ab und sprang. Inmitten eines wahren Hagels aus Glas- und Holzsplittern landete sie auf der Straße, rollte über die Schulter ab und schrie vor Schmerz, als die Wunde, die ihr Angellas Schwert geschlagen hatte, noch weiter aufriß. Trotzdem gelang es ihr irgendwie, auf die Füße zu kommen. Taumelnd erreichte sie die gegenüberliegende Wand der schmalen Gasse, auf der sie gelandet war, ließ sich dagegenfallen und schloß für eine Sekunde die Augen. Der Schmerz in ihrer Schulter wurde fast unerträglich. Ihr schwindelte, und in ihrem Mund breitete sich ein bitterer Geschmack aus.
Aber ihr blieb keine Zeit, der Schwäche nachzugeben. Der Lärm aus dem Gasthaus nahm zu. Irgend jemand begann mit schriller, überschnappender Stimme zu schreien: »Sie hat Angella umgebracht!« und als sie die Augen öffnete, sah sie einen massigen Schatten, der ungeschickt durch das zerborstene Fenster zu klettern versuchte.
Tally atmete noch einmal tief ein, stieß sich von der Wand ab und begann wie von Furien gehetzt zu rennen.
2
Es war pures Glück, das sie die nächsten Stunden überleben ließ. Tally rannte blindlings los, bis sie einfach nicht mehr weiter konnte. Eine Zeitlang waren noch die Schritte ihrer Verfolger hinter ihr, aber irgendwie gelang es ihr, sie abzuschütteln, und irgendwie gelang es ihr sogar, nicht vollends die Orientierung zu verlieren und zumindest die Richtung beizubehalten, in der Weller Karan vermutete – Norden. Aber schließlich wurden Schwäche und Übelkeit so stark, daß sie stürzte und minutenlang einfach dort liegenblieb, wo sie war. Sie war in diesen Augenblicken so hilflos wie niemals zuvor, aber wieder hatte sie Glück: die Gasse, in der sie sich befand, war menschenleer, und das einzige Leben, das sich regte, war eine halbverhungerte Katze, die Tallys Gesicht beschnüffelte und sich trollte, als das Kitzeln ihrer Barthaare die junge Frau stöhnen, die Augen öffnen und sich umsehen ließ.
Es war sehr kalt geworden. Es mußte Mitternacht sein, wenn nicht später, und der Himmel hatte sich wieder mit Wolken bezogen. Weit im Norden über dem Schlund fiel Schnee, und ein eisiger Wind wehte durch die Straßen. Tallys Beine fühlten sich abgestorben und taub vor Kälte an. Als sie aufstehen wollte, gelang es ihr nicht sofort; sie fiel mit einem Schmerzlaut wieder auf die Knie herab, blieb einen weiteren Moment hocken und raffte das bißchen Kraft zusammen, das sie noch in ihrem geschundenen Körper fand, ehe sie sich mit zusammengebissenen Zähnen wieder in die Höhe stemmte.
Die Gasse umgab sie wie eine Schlucht aus Schwärze. Für einen Moment drohte sie vollends die Orientierung zu verlieren; sie wußte nicht einmal mehr, in welcher Richtung Norden lag. Dann klärte sich ihr Blick ein klein wenig, und sie ging los.
Zum erstenmal, seit sie die Gaststube verlassen hatte, nahm sie ihre Umgebung bewußt wahr; zumindest das, was die Dunkelheit sie sehen ließ. Es war wenig genug: Schelfheim hatte sich in eine schweigende Herde buckeliger schwarzer Schatten verwandelt, zwischen denen sich manchmal etwas zu bewegen schien, aber stets verschwand, wenn sie genauer hinsah.
Es wurde auch nicht besser, als sie die Gasse verließ und auf den kleinen, halbrunden Platz hinaustrat, auf den sie mündete. Die Häuser – manche von ihnen schienen auf sonderbare Weise schräg dazustehen, als hätte der Boden begonnen, sie aufzusaugen – lagen dunkel da; nur hier und da sickerte ein wenig Licht durch vorgelegte Läden oder unter einer Tür hindurch. Aber Tally verwarf den Gedanken, an eine dieser Türen zu klopfen und um Hilfe zu bitten, beinahe ebenso rasch wieder, wie er ihr gekommen war. Ihr Bedarf an Begegnungen mit den Bewohnern dieses Stadtteiles war fürs erste mehr als gedeckt.
Aber sie brauchte Hilfe. Allein hatte sie nicht die mindeste Chance, Karan zu finden.
Wieder blieb sie stehen, lehnte sich erschöpft gegen eine Wand und schloß für einen Moment die Augen. Müdigkeit und Schwäche wollten sie erneut übermannen, aber diesmal gab sie ihnen nicht nach. Sie wartete nur, bis das Zittern ihrer Hände und Knie halbwegs aufgehört hatte, dann öffnete sie ihren Mantel, streifte das Kleidungsstück ab und begann schmale Streifen aus dem Saum ihres Kleides zu reißen.