»Nora«, antwortete Tally, eine halbe Sekunde, ehe sie ganz automatisch ihren wirklichen Namen nennen konnte und in einem Ton, der selbst dem Dümmsten klar machen mußte, daß dies ganz eindeutig
Tally lächelte. »Danke.«
»Was tust du in einer Gegend wie dieser?« fuhr Angella fort.
Tally antwortete nicht gleich. Sie sah Angella aufmerksam an, aber ihr entging auch keineswegs, daß sie nicht die einzige war. Die Männer, die in Angellas Begleitung gekommen waren, hatten ihr Gespräch unterbrochen und blickten gebannt zu ihnen herüber. Tally hatte plötzlich ein sehr ungutes Gefühl. »Ich... warte auf meinen Bruder«, antwortete sie, nach einer geraumen Weile und stockend, wie jemand, der nur mit Mühe seine Angst unterdrückte.
»Dein Bruder?« wiederholte Angella. »Der Mann, der vorhin mit dir zusammen war?« Tally nickte, und Angella fuhr fort: »Er muß verrückt sein, dich allein in dieser Kaschemme zurückzulassen. Das hier ist eine üble Gegend, weiß er das denn nicht?«
Tally nickte und schüttelte gleich darauf den Kopf. Ihre rechte Hand näherte sich unter dem Tisch dem Schwertgriff. Dieses Mädchen war nicht nur hier, um mit ihr zu reden, das spürte sie.
»Sieh dir die Burschen nur an«, fuhr Angella mit einer Kopfbewegung hinter sich fort. »Das sind noch die Harmlosesten von denen, die hier herumlaufen. Einem kleinen Mädchen wie dir kann hier weiß-Gott-was zustoßen, wenn es allein ist.«
»Ich habe keine Angst«, sagte Tally ruhig. »Ich tue niemandem etwas, warum sollte also mir jemand etwas antun wollen?«
Angella lachte schallend. »Bist du so naiv, oder willst du mich auf den Arm nehmen, Nora?« fragte sie. »Du bist hier schneller tot, als du deinen falschen Namen buchstabieren kannst – wenn du niemanden hast, der auf dich aufpaßt, heißt das. Aber den hast du ja nun«, fügte sie nach einer winzigen Pause hinzu.
Tally tat ihr nicht den Gefallen, sie zu fragen, wie ihre Worte gemeint waren, sondern sah sie nur weiter mit gespieltem Unverständnis an.
»Du gefällst mir«, fuhr Angella fort, als sie auch nach weiteren Sekunden nicht reagierte. »Ich denke, ich werde auf dich aufpassen, bis dein Bruder zurück ist. Aber das kann dauern, vor allem in einer Gegend wie dieser.« Sie lächelte, streckte den Arm aus und legte die Hand unter Tallys Kinn. »Ich wüßte etwas, womit wir uns die Wartezeit vertreiben könnten, Liebes.«
Tally schlug ihre Hand beiseite. Angellas Augen verdunkelten sich vor Zorn, und Tally sah, wie ihre Rechte zum Schwert zuckte; gleichzeitig spannte sich das halbe Dutzend Gestalten, das mit ihr hereingekommen war, und mit einem Male war es sehr still.
Aber Angella führte die begonnene Bewegung nicht zu Ende, sondern atmete nur hörbar ein, starrte Tally noch einen Herzschlag lang eisig an und stand dann mit einer so heftigen Bewegung auf, daß ihr Stuhl umschlug. Tally konnte die Spannung beinahe sehen, die sich mit einem Male in der Gaststube ausbreitete.
Aber der gefährliche Moment ging vorüber, ohne daß irgend etwas geschah. Angella trat zu ihren Begleitern an die Theke zurück, deutete mit einer komplizierten Handbewegung auf Tally und sagte ein Wort, das Tally nicht verstand, unter den zerlumpten Gestalten aber ein gröhlendes Gelächter auslöste. Mit einer herrischen Geste bestellte sie ein weiteres Bier und leerte den Krug mit einem einzigen, gewaltigen Zug.
Tally atmete erleichtert auf. Sie hatte keine Angst gehabt – nicht vor diesem Kind – aber sie war nicht hier, um sich in eine Wirtshausschlägerei verwickeln zu lassen. Außerdem war Angella nicht allein.
Wo blieb nur Weller?
Nach einer Weile kam der Wirt und brachte einen Teller mit halbverbranntem Fleisch und einer hölzernen Schüssel mit der unappetitlichen Pampe, von der er behauptet hatte, es sei frisches Gemüse. Unfreundlich knallte er beides vor Tally auf den Tisch, streckte die Hand aus und verlangte einen Silberheller.
»Besser du tust, was sie von dir verlangt, Kind«, raunte er ihr zu, als sie die Münze in seine Hand fallen ließ. »Du weißt nicht, wer diese Frau ist.«
Tally schwieg – schon, um dem Wirt nicht als Dank für seine Warnung Ärger zu machen. Aber seine Worte hatten das ungute Gefühl in ihr noch verstärkt. Nein – sie war jetzt ziemlich sicher, daß Angella sie nicht so ohne weiteres gehen lassen würde. Und sie konnte nicht ewig hier sitzen bleiben. Wenn Weller nicht kam, bis sie ihr Mahl beendet hatte, würde sie sich auf die Suche nach ihm machen – schlimmstenfalls über Angellas Leiche.