Sie hatte sich nicht getäuscht; die Gestalt in dem schwarzen Mantel war eine Frau, und sie hatte sie schon einmal gesehen; vor nicht einmal einer Stunde, es war die Amazone mit dem Narbengesicht. Tallys Müdigkeit machte vagem Schrecken und einer kribbelnden Anspannung Platz. Sie fragte sich, ob es Zufall war, daß die Frau ausgerechnet hier auftauchte. Schelfheim war eigentlich zu groß für ein solch zufälliges Wiedersehen.
Aber vielleicht hatte sie die unabhängige Flucht, auf der sie sich seit mehr als einem Jahr befand, auch schon ein wenig dem Verfolgungswahn nahegebracht. Aber gleich, ob Zufall oder nicht – das Mädchen mit dem Narbengesicht hatte schon bei ihrem ersten, flüchtigen Zusammentreffen Tallys Neugier geweckt, sie beschloß, die Gelegenheit zu nutzen, sich eine typische Einwohnerin Schelfheims aus der Nähe zu besehen. Fast behutsam stellte sie ihren Krug auf den Tisch zurück, zog das Kopftuch noch ein wenig tiefer in die Stirn und versuchte, möglichst unauffällig auszusehen, während sie die Amazone gleichzeitig aufmerksam musterte.
Die dunkelhaarige Frau war an die Theke getreten und hatte ein Getränk bestellt, und obwohl sie ein gutes Stück kleiner als die Männer neben ihr – und zudem eine Frau – war, fiel Tally sofort auf, daß sie mit sichtlichem Respekt behandelt wurde. In den Blicken des Wirtes zum Beispiel erkannte sie eindeutig Angst, als er auf sie zutrat und das Bier vor ihr abstellte. Und er tat es weitaus höflicher, als er Tally bedient hatte.
Tally blickte nervös zur Tür. Weller hatte versprochen, in längstens einer Stunde zurückzusein, egal ob er Karan nun fand oder nicht. Wenn ihr Zeitgefühl nicht vollends durcheinandergeraten war, mußte diese Frist längst verstrichen sein. Aber von Weller war noch keine Spur. Einen Moment lang spielte sie mit dem Gedanken, das Gasthaus zu verlassen und auf eigene Faust nach Karan zu suchen, sah aber rasch ein, wie wenig sinnvoll ein solches Unterfangen war. Wenn Weller Karan nicht fand, hatte sie als Fremde schon gar keine Chance, dafür aber gute Aussichten, auch noch ihn zu verlieren und sich plötzlich ganz allein wiederzufinden.
Tally registrierte überrascht, wie sehr sie dieser Gedanke erschreckte. Sie war wenig länger als vierundzwanzig Stunden mit Weller zusammen, und doch hatte sie sich bereits an seine Gegenwart gewöhnt – obwohl sie sich immer noch nicht vollkommen sicher war, ob sie ihm nun traute oder nicht. Vielleicht war sie wirklich zu lange allein gewesen.
Statt zu gehen, hob sie den Arm und winkte den Wirt herbei, legte aber rasch die Hand auf ihren erst halb geleerten Krug. Das Bier schmeckte nicht nur wie Pferdepisse, es enthielt auch mehr Alkohol, als im Moment für Tally gut war. Das letzte, was sie sich im Moment leisten konnte war, sich zu betrinken.
»Was hast du zu essen?« fragte sie.
»Braten«, antwortete der Wirt. »Und frisches Gemüse. Aber die Küche ist zu.«
»Dann mach sie wieder auf«, sagte Tally grob. »Ich bezahle.«
»Nichts zu machen«, antwortete der Wirt. »Hättest eher kommen müssen. Aber ich weiß nicht, ob du überhaupt –«
Eine schmale, aber sehr kräftige Hand legte sich auf seine Schulter und drückte zu, und der Wirt verstummte mitten im Worte. Tally sah, wie sein Gesicht unter der Kruste aus Schmutz erbleichte. Hinter ihm stand die dunkelhaarige Frau. Die Narben in ihrem Gesicht ließen ihr Lächeln zu einer Grimasse werden.
»Mach keinen Ärger, Sverd, und bring der Kleinen etwas zu essen«, sagte sie ruhig. »Und mir auch. Ich bin ebenfalls hungrig.«
Sverd nickte hastig. Sein Blick irrte unstet zwischen Tally und der dunkelhaarigen Fremden hin und her, und Tally hatte das Gefühl, daß er etwas ganz Bestimmtes sagen wollte. Aber statt dessen nickte er nur noch einmal – und noch hastiger – trat einen Schritt herum und stürmte fluchtartig davon.
Tally blickte die junge Frau aufmerksam an. Jetzt, als sie sie aus der Nähe sah, erkannte sie, daß sie noch jünger war, als sie bisher angenommen hatte – keine zwanzig Jahre, ein wenig kleiner als sie, aber von sehr kräftigem Wuchs. Ihr Haar fiel lang und glatt bis auf den Rücken heran und hatte die Farbe glänzenden Rabengefieders, bis auf eine handbreite, schlohweiße Strähne, die über ihrer linken Schläfe begann und sich bis zum Scheitel hinaufzog. Ihr Gesicht mußte einmal sehr schön gewesen sein – bis jemand Säure hineingeschüttet oder es verbrannt hatte.
»Gefällt dir, was du siehst?« fragte sie scharf. Tally schrak schuldbewußt zusammen, als ihr klar wurde, daß sie die Fremde angestarrt hatte. »Verzeih«, sagte sie hastig. »Ich... ich wollte dich nicht verletzen. Danke.«
»Schon gut.« Die Schwarzhaarige machte eine herrische Handbewegung. »Ich weiß, daß ich keine Schönheit bin. Ich bin Angella. Und du?«