Wir waren gerade mit allem fertig, da hörten wir bachaufwärts leisen Gesang. Wir lauschten angestrengt, konnten aber wegen des plätschernden Bachs nichts Genaueres ausmachen.
Doch wo gesungen wurde, waren Menschen: Wir befanden uns also in der Nähe von Crosson oder vielleicht sogar des Wirtshauses ZUM GÜLDENEN PENNY, falls wir im Sumpf zu weit nach Süden abgekommen waren. Das einfachste Bauernhaus erschien uns verlockender als eine weitere Nacht im Freien.
Obwohl wir müde waren und uns alle Glieder wehtaten, verlieh uns die Hoffnung auf ein weiches Bett, eine warme Mahlzeit und ein kühles Getränk neue Kraft. Also nahmen wir unser Gepäck auf und wanderten weiter.
Wir folgten dem Bach. Dedan und Hespe gingen wie zuvor Arm in Arm. Der Gesang ertönte in Abständen immer wieder. Der Bach war wegen des Regens der vergangenen Tage stark angeschwollen und rauschte manchmal so laut, dass wir nicht einmal unsere eigenen Schritte hörten.
Doch dann wurde er breiter und ruhiger. Das dichte Unterholz endete und wir traten auf eine Lichtung.
Der Gesang war verstummt. Weder eine Straße noch ein Wirtshaus waren zu sehen, nicht einmal ein Feuer, nur eine große, vom Mond hell beschienene Lichtung. Der Bach verbreiterte sich zu einem glitzernden Teich. Und auf einem glatten Felsen am Ufer dieses Teichs saß jemand.
»Tehlu der Herr beschütze mich vor den Dämonen der Nacht«, murmelte Marten mit tonloser Stimme. Doch er klang eher ehrfürchtig als ängstlich. Und er wandte den Blick nicht ab.
»Das ist doch …«, ächzte Dedan. »Das ist …«
Vor uns saß Felurian.
Kapitel 95
Die Jagd
Wie erstarrt standen wir da. Die kleinen Wellen des glitzernden Teichs warfen helle Reflexe auf die schöne Gestalt Felurians. Sie saß dort nackt im Mondschein und sie sang:
Mit ihrer Stimme hatte es eine seltsame Bewandtnis. Sie war so sanft und leise, dass wir sie eigentlich gar nicht hätten hören können, erst recht nicht durch das Murmeln des Wassers und das Rauschen der Blätter. Trotzdem hörte ich sie. Ihre Worte klangen so deutlich und süß wie die steigenden und fallenden Töne einer fernen Flöte. Sie erinnerten mich an etwas, das ich nicht benennen konnte.
Dedan hatte damals in seiner Geschichte dieselbe Melodie gesungen. Abgesehen von Felurians Namen in der letzten Zeile verstand ich kein Wort. Trotzdem fühlte ich mich auf unerklärliche Weise wie magnetisch davon angezogen, als greife mir eine unsichtbare Hand in die Brust und ziehe mich an meinem Herzen auf die Lichtung hinaus.
Ich widersetzte mich. Ich wandte den Blick ab und stemmte mich mit der Hand gegen den Baum neben mir.
Hinter mir hörte ich Marten fortwährend »nein« murmeln, als wolle er sich etwas ausreden. »Nein, nein, nein. Nicht für alles Geld der Welt.«
Ich sah mich zu ihm um. Er starrte mit fiebrig glänzenden Augen auf die Lichtung, doch schien seine Angst größer zu sein als seine Erregung. Auf Tempis sonst so unbewegtem Gesicht zeigte sich Überraschung. Dedan stand wie erstarrt und mit angespannter Miene da, während Hespe zwischen ihm und der Lichtung hin und her sah.
Dann begann Felurian erneut zu singen. Ihr Gesang klang wie das Versprechen eines warmen Feuers in einer kalten Nacht, wie das Lächeln eines Mädchens. Ich musste an Losi vom Wirtshaus ZUM GÜLDENEN PENNY denken, an ihren wilden feuerroten Lockenschopf, an ihre schwellenden Brüste und daran, wie sie mir mit der Hand über das Haar gestrichen hatte.
Felurian sang und ich fühlte einen Sog, der stark war, doch nicht so stark, dass ich ihm nicht hätte widerstehen können. Ich blickte wieder auf die Lichtung hinaus. Felurians Haut schimmerte silbrigweiß durch die Nacht. Mit der Anmut einer Tänzerin beugte sie sich vor und tauchte eine Hand in das Wasser des Teichs.
Plötzlich erfüllte mich eine große Klarheit. Wovor hatte ich Angst? Vor einem Märchen? Hier ging es um Magie, um wirkliche Magie, ja mehr noch, um die Magie des Gesangs. Ich würde es mir nie verzeihen, wenn ich diese Gelegenheit nicht nutzte.
Ich wandte mich zu meinen Gefährten um. Marten zitterte sichtlich, Tempi wich langsam zurück, Dedan hatte die Hände an seiner Seite zu Fäusten geballt. Wollte ich mich wie sie von Furcht und Aberglauben beherrschen lassen? Nein, niemals. Ich gehörte dem Arkanum an, ich war ein Namenskundiger und ein Edema Ruh.
Wildes Lachen stieg in mir auf. »Wir sehen uns in drei Tagen im GÜLDENEN PENNY«, rief ich und betrat die Lichtung.
Ich spürte die Anziehungskraft Felurians jetzt noch stärker. Ihre Haut leuchtete im Mondlicht, ihr langes Haar hüllte sie wie ein Schatten ein.