»Das verstehe ich nicht.«
Sie bedeutete mir mit einer Handbewegung, mit dem Ketan anzufangen. Ich nahm automatisch die Haltung des Spatzenfängers ein.
»Halt.« Ich erstarrte. »Wenn ich dich jetzt angreifen wollte, wo würde ich es tun? Hier, an der Wurzel?« Sie drückte gegen mein Bein, doch es bewegte sich nicht. »Hier am Blatt?« Sie drückte gegen meine erhobene Hand und konnte sie zwar bewegen, erreichte aber sonst nichts. »Oder hier am Ast.« Sie drückte sanft gegen meine Schulter, die sofort nachgab. »Und hier.« Sie drückte gegen meine Hüfte, worauf ich mich drehte. »Siehst du? Du musst den richtigen Ansatzpunkt für deine Kraft finden, sonst ist sie verschwendet. Kraft zu verschwenden widerspricht dem Geist des Lethani.«
»Ja, Shehyn.«
Sie hob die Hände und nahm wieder die Haltung des Fallenden Reihers ein, bei dessen Ausführung ich sie zuvor unterbrochen hatte. »Mach den Aufwärtsdonner. Wo ist meine Wurzel?«
Ich zeigte auf ihren fest auf dem Boden stehenden Fuß.
»Und mein Blatt?«
Ich zeigte auf ihre Hände.
»Nein. Das Blatt geht von hier bis da.« Sie zeigte auf ihren ganzen Arm und führte vor, wie sie mit den Händen, Ellbogen oder Schultern zuschlagen konnte. »Wo ist der Ast?«
Ich überlegte lange, dann klopfte ich auf ihr Knie.
Ich spürte ihr Erstaunen, obwohl sie keine Miene verzog. »Und wo noch?«
Ich klopfte auf die gegenüberliegende Achsel und dann die Schulter.
»Zeig es mir.«
Ich trat vor sie hin, stellte ein Bein gegen ihr Knie, vollführte die Bewegungen des Aufwärtsdonners und warf sie zur Seite. Zu meiner Überraschung brauchte ich dazu nur ganz wenig Kraft.
Doch statt durch die Luft zu fliegen und zu fallen hielt Shehyn sich an meinem Unterarm fest. Ein Ruck lief durch meinen Arm, und ich trat stolpernd einen Schritt zur Seite. Statt zu fallen nutzte Shehyn ihren Griff als Hebel und landete mit den Füßen voran. Anschließend machte sie einen einzigen, vollkommenen Schritt und hatte sich wieder gefangen.
Einen langen Augenblick sah sie mich nachdenklich an, dann wandte sie sich zum Gehen und bedeutete mir, ihr zu folgen.
Kapitel 111
Ein Lügner und Dieb
Wir kehrten zu der Gruppe steinerner Bauten zurück. Dort sahen wir Tempi vor der Tür. Er trat nervös von einem Bein auf das andere, was meine Vermutung bestätigte. Nicht er hatte Shehyn geschickt, um mich zu prüfen. Sie hatte mich selbst gefunden.
Als wir vor ihm standen, hielt er Shehyn mit der rechten Hand sein Schwert hin. Die Spitze zeigte nach unten. Mit der linken Hand machte er die Bewegung für
Shehyn bedeutete ihm, ihr in das niedrige Steinhaus zu folgen. Zugleich winkte sie einem kleinen Jungen. »Hol Carceret.« Der Junge rannte los.
Er sah mich nicht an.
Shehyn führte uns zu einer offenen Tür, an der eine in kriegerisches Rot gekleidete Frau zu uns kam. Ich erkannte sie an den dünnen Narben an ihrer Augenbraue und ihrem Kinn. Es war dieselbe Frau, der wir auf dem Weg nach Severen begegnet waren und die mich mit der Hand zurückgestoßen hatte. Offenbar hieß sie Carceret.
Shehyn winkte Tempi und die Frau nach drinnen, mir dagegen gebot sie mit erhobener Hand, draußen zu bleiben. »Warte hier. Was Tempi getan hat, ist nicht gut. Ich werde ihn anhören. Dann werde ich entscheiden, was mit euch geschehen soll.«
Ich nickte, und Shehyn schloss die Tür hinter sich.
Ich wartete eine Stunde, dann zwei. So angestrengt ich auch lauschte, durch die Tür drang kein Geräusch. Auf dem Flur gingen einige Leute an mir vorbei, zwei davon in Rot, ein dritter in einem schlichten, grauen Kittel. Sie alle sahen unwillkürlich meine Haare an, wandten den Blick aber sofort wieder ab.
Statt zu lächeln und zu nickten, wie es unter Barbaren üblich gewesen wäre, verzog ich keine Miene, erwiderte die kleinen Gesten, mit denen sie mich grüßten, und mied ihren Blick.
Nach über drei Stunden ging die Tür plötzlich auf, und Shehyn winkte mich herein.
Das Zimmer hatte Wände aus glatt behauenen Steinen und war hell erleuchtet. Es war so groß wie ein geräumiges Schlafzimmer in einer Herberge, wirkte aber größer, weil nur wenig Möbel darin standen. Ein kleiner eiserner Ofen an der Wand strahlte eine sanfte Wärme aus, in der Mitte standen vier Stühle im Rund. Auf dreien saßen Tempi, Shehyn und Carceret. Auf eine Handbewegung von Shehyn hin setzte ich mich auf den vierten.
»Wie viele Menschen hast du getötet?«, fragte Shehyn. Sie klang anders als zuvor, gebieterisch. Genauso hatte Tempi in unseren Gesprächen über Lethani gesprochen.
»Viele«, antwortete ich, ohne zu zögern. Ich bin vielleicht manchmal etwas schwer von Begriff, aber wenn ich geprüft werden soll, spüre ich das sofort.