Im Treppenhaus brennt kein Licht, die Lichtschalter sind rausgerissen. Drähte ragen aus den Löchern, dünne, kopflose Hälse, blau und rot. Die Gänge enger, die Treppen kürzer als damals, und die Luft trägt so schwer Brot, als würden alle im Haus gleichzeitig backen. Kein Name am Klingelschild, wo Teta Amela, die beste Brotbäckerin der Welt, gewohnt hat. Meine Oma hustet hinter der geschlossenen Tür, an deren Klingelschild »Slavko Krsmanović« steht. Es klingelt nicht, kein Strom, ich klopfe.
Ich habe Listen gemacht. Die Moscheen. Eine der beiden soll wieder aufgebaut werden. Es gibt konkrete Pläne dafür und konkrete Proteste dagegen. An den Kastanien, nicht weit von dem Platz, wo das Minarett der größeren Moschee in den Himmel wies, hängen wie früher die Todesanzeigen. Die grün umrandeten mit arabischen Schriftzeichen und die schwarz umrandeten mit dem Kreuz. Es steht vierzehn zu eins für die toten Christen. Nur wenige Muslime sind in ihre Häuser zurückgekehrt.
Aleksandar, sagt Oma Katarina, ich habe Brot gebacken, gleich setze ich die Milch auf.
Die Umarmung ist kurz. Oma reicht mir bis zum Hals, am Hals küsst sie mich, ich erschrecke vor ihr, und ich erschrecke auch vor mir selbst, weil ich mich ein wenig vor ihrem feuchten Mund und den kitzelnden Härchen an ihrer Oberlippe ekle. Komm, sagt sie, du bist müde, lass dich ansehen. Ja, dein Opa.
Omas Haar ist schwarz gefärbt, an der Wurzel zieht das Weiß nach, sie riecht säuerlich wie feuchter Mais und versucht, meine Tasche zu heben. Trinkst du eigentlich Kaffee?, fragt sie.
Lass nur, sage ich und trage das Gepäck ins Schlafzimmer. Am Türrahmen kann ich ablesen, wie groß ich am 6. April 1992 gewesen bin: 1,53m. Die ersten Granaten fielen, mein Vater spitzte den Bleistift und rief mich zu sich. Dafür ist noch Zeit, stell dich hier hin. Heute messe ich mich selbst und betrüge auf Zehenspitzen, wie ich damals Vater betrogen habe, um zwei-drei Zentimeter. Knapp über mein Haar ritze ich einen Bleistiftstrich in das Holz des Türrahmens. Aus der Küche riecht es nach Milch. Ich warte, 1,80m groß, zwölf Minuten und trinke warme Milch.
Ich habe Listen gemacht. Das grüne Haus mit dem merkwürdigen Dach ist immer noch ein grünes Haus mit merkwürdigem Dach. Im einzigen großen Fenster ein Bonsai. Auf dem merkwürdigen Dach eine Satellitenschüssel. Das Dach fällt steil und reicht fast zum Boden. Ich spähe durch das Fenster. Mitten im kleinen Zimmer hockt eine junge Frau im Schneidersitz auf einer Bambusmatte. Sie hat die Augen geschlossen. Ihre Hände ruhen, mit den Handflächen nach oben, auf ihren Knien. Daumen und Mittelfinger berühren sich.
Im kleinen Park neben dem Haus steht die alte Lokomotive. Sie wurde restauriert und neu lackiert, ich fahre mit der Hand über ihre Front: glattes, kühles Eisen. Opa Rafik, grau, Lokomotive. Ein älteres Touristenehepaar bittet mich, ein Foto von ihnen vor der Lokomotive zu schießen. Sie tragen Panamahüte. Sie kaufen Andenken aus Holz, die Brücke, die Moschee als Kettenanhänger, einen Mini-Ivo-Andrić: meine Fantasie ist unermesslich.
Ich packe aus. Diabetiker-Kirschmarmelade. Oma Katarina bricht in Gelächter aus, ich esse keine Marmelade, die ich nicht selbst gekocht habe! Sie wickelt das Glas wieder ein und bittet mich, es im Špajz abzustellen. Liste der Geruchsorte. Keller: Erbseneintopf und Kohlen. Der Friedhof in Veletovo: frisch gemähtes Gras. Zorans Tante Desa: Honig. Soldaten: Eisen und Schnaps. Drina: Drina. Špajz, die Speisekammer: Sauerteig und morsches Holz – darin der Brotkasten, die Konserven, der Zucker, das Mehl, die Tüten in Tüten, die Motten, die unergründlichen Schachteln und die verrostete Mausefalle. Hinter einem Regal liegt seit unserer Flucht meine Angel. Die Spule werde ich ölen müssen, der Haken ist verrostet. Oma, rufe ich aus der kleinen Kammer, seit wann essen Mäuse Korken?
Wir gehen jetzt überall Kaffee trinken, sagt Oma und verlässt die Wohnung. Ich habe Respekt vor klugen Mäusen, ruft sie aus dem Treppenhaus.
Kaffee ist für Oma nicht nur ein Getränk, Kaffee ist: die weißen Gardinen der Nachbarin in den Himmel zu loben, weil sie so gut gewaschen sind. Ich trinke den ersten Kaffee meines Lebens mit meiner Großmutter bei Teta Magda im vierten Stock. Ich habe Listen gemacht. Hochhausbewohner. Der Mythos besagt, dass ich meine ersten Schritte in Magdas Arme gemacht habe. Es seien hierzu weder Süßigkeiten notwendig gewesen, noch Pflaumen und Hackfleisch. Mit ihrem langen Hals und der langen Nase sieht Magda wie ein Storch aus. Magda aus dem vierten Stock ist eine müde gewordene mythische Gestalt, sie muss ihren Kopf stützen, weil er von alleine nicht mehr gerade aufsitzen will. Sie legt ihm die Hand unter, was sie gleichzeitig verträumt und erschöpft aussehen lässt. Ihre Wangen sind eingefallen, die dünnen Haare Stränge aus silbrigem Blei. Meine Katarina, sagt Magda, ich könnte alles in Grund und Boden schlafen. Du bist gewachsen, Aleksandar. Sie mustert mich aus grünen Augen.