Der Busbahnhof kommt mir viel kleiner vor als früher, aber genauso schäbig. Boris steuert eine der fünf Parkinseln an, abseits parken vier heruntergekommene Busse, darunter – ich erkenne ihn sofort – der Centrotrans-Bus, mit dem Walross halb Jugoslawien befahren hat. Die Karosserie verwahrlost, der Rost fletscht die Zähne, graues Unkraut wuchert von innen durch die Fenster, belegt die Felgen. Ich steige als Letzter aus, wohin, junger Mann?, ruft Boris, aber ich tue, als sei ich nicht gemeint und betrete den kleinen Warteraum im Bahnhofsgebäude. Die Tür existiert nicht mehr, Uringeruch steigt mir in die Nase, der Ticketschalter ist verlassen, die Wandfarbe, etwas zwischen Beige und Gelb, blättert ab. Hallo?, rufe ich hinein, es hallt. Ich möchte Armin begrüßen, den Stationsvorsteher mit dem unbeherrschten Bein, er steht auf einer meiner Listen. Ist er überhaupt in der Stadt? War Armin Muslim?
Wen suchst du? Boris steht hinter mir, raucht, eine Hand spielt mit dem Schlüssel in seiner Hosentasche.
Armin, den Stationsvorsteher, sage ich und wende mich zum Gehen, aber Boris versperrt mir den Weg, nimmt einen Zug von seiner Zigarette und sagt: einen Armin hat es hier nie gegeben.
Ach, sage ich, sehe an Boris vorbei, die anderen Passagiere sind schon verschwunden. Boris, ich und fünf Busse, davon vier kaputte mit rostigen Felgen, müssen das hier unter uns ausmachen.
Wohin willst du?, fragt er und deutet mit der Zigarette auf meine Reisetasche.
Wer Madonna hört, kann doch nicht gefährlich sein, geht mir durch den Kopf, und ich sage so beiläufig wie möglich: ach, ich besuche meine Großmutter.
Boris runzelt die Stirn, hält die Zigarette zwischen Daumen und Zeigefinger, wenn er einen Zug nimmt. Wie heißt sie?
Katarina, sage ich lauter als beabsichtigt, Katarina Krsmanović, Zucker und Diabetes, stottere ich, in letzter Zeit kann sie nicht mehr, versuche ich zu erklären, bemerke dann eine Veränderung im Gesicht des Busfahrers. Sein Blick wechselt von aufdringlich zu neugierig. Er lässt mich ausreden und drückt, nach einem letzten kurzen Zug, die Zigarette mit der Schuhsohle aus.
Kennst du Miki Krsmanović?, fragt er.
Ja, das ist mein Onkel.
Onkel, so? Boris sieht sich um, zieht seine Hose hoch und setzt eine riesige Sonnenbrille auf. Er greift nach meiner Tasche, ich ziehe die Hand zurück und mache einen Schritt in den Warteraum. Wir haben den gleichen Weg, sagt er.
Müssen Sie nicht weiter?
Schon, sagt er, aber ich fahre ungern mit leerem Magen. Komm, ich helfe dir mit der Tasche.
Geht schon, ist nicht schwer, sage ich und nehme ihm die Tasche aus der Hand. Sie kennen meinen Onkel?
Nein, sagt er und spuckt durch die Zähne, Gott sei Dank nicht.
Ich habe Listen gemacht. Beinamen. Der mit dem unbeherrschten Bein. Zylinderhut. Mein Trauriger. Der Dreipunktemann. Taifun. Der singend ins Gebirge stieg und niemals wieder zurückkam. Walross und Marienkäfer. Kartoffel-Aziz. Massaker. Der mit Gold im Mund.
Boris und ich kommen am Fußballstadion vorbei, Jugendliche trainieren den Kopfball, ich denke an Kikos Stirn. Ein Mann mit langem Zopf wirft ihnen Bälle zu, die sie in die Maschen köpfen. Der Mann trägt Anzug und Seidenschal. Einen Torwart gibt es nicht. Boris und ich laufen schweigend nebeneinander, hinter uns das Klatschen des Balles gegen das Gebälk. Boris zuckt mit den Schultern. Wir überqueren die Brücke über den Rzav, von der Edin und ich am Tag des Soldatenreigens die Fische mit Spucke gefüttert haben. Der Fluss ist seicht, weiße Schauminseln treiben mit der Strömung. Ich spucke. Die Brücke hat alle Hochwasser ausgehalten.
Ich habe Listen gemacht. Barbe, Döbel, Frauennerfling, Gründling, Hasel, Huchen, Karpfen, Moderlieschen, Wels mit Brille und Schnurrbart.
Über Onkel Miki sprechen wir nicht mehr, auf meine Nachfrage winkt Boris ab und redet von anderen Dingen. Er lenkt mich von den Farben und den Gerüchen der Stadt ab, fragt, wie alt ich damals gewesen sei, wo genau ich in Deutschland gelebt habe, ob ich ihm ein Visum besorgen könne und was dran sei an den Gerüchten über Madonna und Guy Ritchie. Zum Abschied, vor dem Hochhaus, in dem Oma Katarina lebt, sagt er dann: nichts für ungut. Weißt du nichts, bist du ein Idiot. Weißt du viel und gibst du es zu, bist du ein gefährlicher Idiot. Višegrad weiß immer genau, wie viel es wissen darf und verraten soll.
Im Hof vor dem Hochhaus spielen sechs schwarzhaarige Jungs Fußball, Schulranzen als Pfosten, der Ball rollt mir vor die Füße; ich stelle die Tasche ab. Sie greifen nach einer ersten Verlegenheit an, wer ist bei mir?, rufe ich, wer ist bei mir? Einer läuft sich auf links frei, Čiko!, ruft er, ich passe ihm in den Lauf, er hat nur noch den Torwart vor sich und täuscht an.