Alles Abgeschlossene und jeder Tod kommen mir unnötig und unglücklich und unverdient vor. Sommer werden Herbst, Häuser werden abgerissen und Menschen auf den Fotos werden Fotos auf den Grabsteinen. So viele Dinge sollten nicht fertig werden – Sonntage nicht, damit Montage nicht kommen, Staudämme nicht, damit Flüsse nicht aufgehalten werden. Tische sollten nicht lackiert werden, vom Geruch bekomme ich Kopfweh, die Ferien nicht Schulanfang, die Zeichentrickfilme nicht Nachrichten. Auch meine Liebe zu Danijela mit dem sehr langen Haar hätte nicht zu einer unerwiderten werden dürfen. Und man sollte niemals Zauberhüte mit Opa fertig gebastelt haben, sondern mit ihm endlos über die Vorteile eines Lebens als Zauberer im Dienst des Kommunistischen Bundes reden und darüber, was passieren kann, wenn man Brot mit Sternenschweifstaub würzt.
Ich bin gegen das Enden, gegen das Kaputtwerden! Das Fertige muss aufgehalten werden! Ich bin der Chefgenosse für das Immerweitergehen und unterstütze das Undsoweiter!
Im letzten Fotoalbum finde ich ein Bild von der Brücke über die Drina. Die Brücke sieht aus wie immer, nur dass Gerüste ihre elf Bögen umzäunen. Menschen stehen auf dem Gerüst, sie winken, als sei die Brücke ein Schiff, das gleich abfahren wird, den Fluss hinab. Trotz der Gerüste sieht die Brücke fertig aus. Sie ist komplett, die Gerüste können ihrer Schönheit und ihrem Nutzen nichts anhaben. Dieses riesige Vollendetsein unserer Brücke macht mir nichts aus. Die Drina ist reißend, schnell: die breite, die gefährliche Drina – ein junger Fluss!
Wenn du schnell fließt, ist das wie laut schreien.
Heute wälzt sie sich träge dahin, mehr See als Fluss, das Wasser ist vom Staudamm entmutigt worden – die langsame Drina, an den Rändern wie ausgefranst von Treibholz und Schmutz. Ich löse die Brücke vorsichtig aus dem Album. Die Oberfläche ist kühl und glatt, so ist heute der damals wilde, ungezähmte Fluss. Ich stecke das Foto in die Hosentasche, es wird zerknittern und Eselsohren bekommen.
Ich will unvollendete Dinge schaffen. Ich bin kein Häuserbauer und in Mathe, bis auf Kopfrechnen, bedenklich schlecht. Ich weiß nicht, wie man Ziegel herstellt. Aber ich kann malen. Das und meine großen Ohren und den Ausruf: nicht jetzt, siehst du nicht, dass ich beschäftigt bin!, habe ich von meinem Künstlervater. Ich werde Künstler des guten Unvollendeten ! Pflaumen ohne Kern, Flüsse ohne Dämme und Genosse Tito in T-Shirt werde ich malen! Künstler müssen durchdachte Serien schaffen, mein Hauskünstler Vater nennt das ein Erfolgsrezept und hat es mir in seinem Atelier verraten. Außer den Leinwänden und den Farben lagern dort Fässer mit Sauerkraut, Kisten mit alter Kleidung und das Kinderbett, dem ich entwachsen bin. Ganze Wochenenden verbringt Vater in seinem Atelier. Ein Maler darf nie mit dem zufrieden sein, was er sieht – Wirklichkeit abbilden heißt vor ihr kapitulieren!, ruft er, wenn ich an der Tür klopfe, weil Fußbälle und Fahrradschläuche wieder Luft verlieren. Künstler müssen umbilden und neu bilden, Künstler sind Weltveränderer und Weltenerschaffer!, meint mein Vater mit der Baskenmütze, während er den Ball aufpumpt. Er spricht nicht zu mir, er erwartet keine Antwort. Im Atelier laufen französische Chansons, spätabends Pink Floyd, und die Tür ist abgeschlossen.
Durchdachte Serien sind die Lösung. Sollen andere Flugzeuge fliegen und im Zoo die Pelikane entlausen – ich werde ein Fußball spielender, angelnder Serienkünstler des Unfertigen sein! Keines meiner Bilder wird zu Ende gemalt, jedem wird etwas Wichtiges fehlen.
Ich hole meine Malsachen, den Farbkasten, Papier leihe ich mir von meinem Vater. In ein Marmeladenglas gebe ich Wasser und weiche die Pinsel ein. Das leere Blatt liegt vor mir. Das erste Bild des Unfertigen muss die Drina sein, der lausbübische Fluss, noch ohne den Staudamm. Ich gebe Blau und Gelb auf den Mischteller, ziehe den ersten Strich grün über das Blatt, das Grün ist zu matt, ich dunkle es vorsichtig nach, male eine Kurve, ich helle es auf, zu kalt, ich gebe Ocker hinzu, Grün, Grün, aber so ein Grün wie Drinas Grün kriege ich in hundert Jahren nicht hin.
Die Toten sind einsamer als wir Lebenden es je sein können. Sie können einander durch Sarg und Erde nicht hören. Und die Lebenden gehen hin und pflanzen Blumen auf die Gräber. Die Wurzeln wachsen in die Erde und brechen durch den Sarg. Irgendwann ist der Sarg voll mit Wurzeln und mit dem Haar der Toten. Die können dann nicht mal mehr Selbstgespräche führen. Wenn ich sterbe, möchte ich ein Massengrab. In einem Massengrab hätte ich keine Angst vor der Dunkelheit und wäre nur deswegen einsam, weil mich mein Enkel so vermissen wird, wie ich meinen Opa Slavko jetzt.