Ich weiß nicht, wie lange ich in der Ecke gestanden habe, bevor mich mein Vater am Arm fasste, als nehme er mich gefangen. Er übergab mich meiner Mutter, sie zerrte mich durch das Treppenhaus in den Hof. Die Luft roch nach Mirabellenmaische, auf dem Megdan brannten Feuer. Vom Megdan aus kann man fast die ganze Stadt sehen, vielleicht auch in den Hof vor dem großen Haus mit seinen fünf Stockwerken, für Višegrad schon ein Hochhaus, wo sich eine junge Frau mit langem schwarzen Haar und braunen Augen zu einem Jungen mit der gleichen Haarfarbe und den gleichen Mandelaugen beugte. Sie pustete ihm Strähnen aus der Stirn, ihre Augen füllten sich mit Tränen. Was sie zu dem Jungen flüsterte, war auf dem Megdan nicht zu hören. Wahrscheinlich war auch nicht zu erkennen, dass der Junge, nachdem ihn die Frau umarmt und lange, lange fest gehalten hatte, nickte. So wie man nickt, wenn man etwas verspricht.
Am Abend des dritten Tages nach Opa Slavkos Tod sitze ich in der Küche und blättere Fotoalben durch. Ich nehme alle Fotos von Opa Slavko aus dem Album heraus, noch weiß ich nicht, was ich mit ihnen vorhabe. Im Hof legt sich unsere Kirsche mit dem Wind an, ein Sturm. Nachdem ich Opa Slavko die Fähigkeit gegeben haben werde, wieder zu leben, wird mein nächster Streich sein, uns allen die Fähigkeit zu geben, Geräusche festzuhalten. Wir werden den Wind in den Kirschblättern und das Rumoren des Donners und das nächtliche Hundebellen im Sommer in ein Album aus Tönen legen können. Und hier hacke ich Holz für den Kamin – so werden wir unser Leben aus Tönen stolz vorführen wie sonst die Bilder aus dem Adria-Urlaub. Kleine Geräusche wird man in der Faust tragen können. Meiner Mutter würde ich ihr Lachen der guten Tage über die Sorgen im Gesicht legen.
Die bräunlichen Fotos mit dem breiten, weißen Rand riechen nach Plastiktischdecken und zeigen Menschen mit komischen, nach unten breiter werdenden Hosen. Vor den Fassaden eines unfertigen Višegrads steht ein kleiner Mann in Bahnwärteruniform und sieht geradeaus, steif wie ein Soldat: Opa Rafik.
Opa Rafik, der Vater meiner Mutter, ist schon lange endgültig tot, er ist in der Drina ertrunken. Ich kannte ihn kaum, erinnere mich aber an ein Spiel mit ihm, ein einfaches Spiel. Opa Rafik zeigte auf etwas, und ich nannte davon den Namen, die Farbe und das Erste, was mir dazu einfiel. Er zeigte auf sein Taschenmesser, und ich sagte: Messer, grau und Lokomotive. Er zeigte auf einen Spatz, und ich sagte: Vogel, grau und Lokomotive. Opa Rafik zeigte durch das Fenster in die Nacht, und ich sagte: Träume, grau und Lokomotive, und Opa deckte mich zu und sagte: schlaf eisern.
Die Zeit meiner grauen Periode war die Zeit meiner Besuche beim Augenarzt, der nichts feststellte, außer, dass ich mir zu schnell Sachen merken konnte, zum Beispiel die Reihenfolge der kleinen und großen Buchstaben auf seinem Plakat. Frau Krsmanović, das müssen Sie ihm irgendwie austreiben, sagte der Arzt und verschrieb meiner Mutter Tropfen wegen ihrer immer geröteten Augen.
Vor Lokomotiven und Zügen fürchtete ich mich damals sehr. Opa Rafik hatte mich zu der stillgelegten Eisenbahn-Trasse mitgenommen, die abblätternde Farbe von der alten Lok gekratzt, ihr habt mir das Herz gebrochen, geflüstert und die schwarze Farbe zwischen den Handflächen zerrieben. Auf dem Nachhauseweg – Pflasterstein, grau, Lokomotive, meine Hand in seiner großen, mit scharfen Farbsplittern geschwärzten – beschloss ich aus Sorge um mein Herz, zu Zügen gut zu sein. Nur kamen ja schon lange keine mehr durch unsere Stadt. Einige Jahre später zeigte mir meine erste nicht erwiderte Liebe, Danijela mit dem sehr langen Haar, wie albern ich die ganze Zeit war, mein Herz vor Zugbruch zu schützen, wenn sie es doch sei, die mir die wirkliche Bedeutung von Herzbruch offenbaren würde.
Abblätternde Farbfetzen und das graue Spiel sind meine einzige Erinnerung an Opa Rafik, es sei denn, alte Fotos zählen als Erinnerungen. An Opa Rafik mangelt es überhaupt bei uns. So gern und so viel meine Familie beim Kaffee über sich und andere Familien und über die Toten bei sich und bei den anderen Familien erzählt, so selten wird dabei Opa Rafik bedacht. Nie sieht jemand in den Kaffeesatz und seufzt: ach, Rafik, mein Rafik, wenn du das erleben könntest! Nie mutmaßt jemand, was Opa Rafik zu irgendetwas sagen würde, sein Name fällt weder als Dank noch als Vorwurf.
Weniger am Leben als Opa Rafik kann kein Toter sein.
Die Toten haben es in ihrer Erde einsam genug, warum lässt man auch noch die Erinnerung an Opa Rafik vereinsamen?
Mutter kommt in die Küche und öffnet den Kühlschrank. Sie will Brote schmieren für die Arbeit, legt Butter und Käse auf den Tisch. Ich sehe in ihr Gesicht, suche darin Opa Rafiks Fotogesicht.