Liebe Asija, entschuldige, dass ich dir so lange nicht geschrieben habe. Bekommst du überhaupt meine Briefe? Gibt es dich? Ich schreibe weiter, ich bin in letzter Zeit ohnehin viel allein, mache mir aber nichts aus.
Meine Eltern leben seit einem Jahr in den USA. In Florida. Für immer, erst mal. Vater hat eine Kokosnuss gepflückt und seit sieben Jahren wieder das erste Bild gemalt. Er nennt es »Selbstporträt mit Coconut« und die gewählten Farben ein Duett von Ocker und Braun auf sattgrüner Sommerwiese. Mutter fing in einer Anwaltskanzlei an, sie meint, das sei nicht schwer, die Gesetze seien viel übersichtlicher als bei uns. Sie hat sich Schlittschuhe gekauft, fährt jeden Sonntag zur Eishalle und möchte ein Footballspiel im Stadion sehen, ohne meinen Vater. Sie findet, die Spielerhosen sitzen so gut.
Wenn sie nicht ausgewandert wären, hätte man sie nach Bosnien zurückgeschickt. Freiwillige Rückkehr nennt sich das. Ich finde, etwas Verordnetes kann nicht freiwillig sein und eine Rückkehr keine Rückkehr, wenn es sich um einen Ort handelt, dem die Hälfte der ehemaligen Bewohner fehlt. Das ist ein neuer Ort, dahin kehrt man nicht zurück, da fährt man zum ersten Mal hin. Ich kann mir nicht einmal vorstellen, wie es wäre, in Bosnien zur Schule zu gehen. Ich sehe nur mein altes Klassenzimmer und Edin in der Bank hinter mir. Titos Bild hängt noch an der Wand. Wegen der Schule durfte ich hier bleiben, meine Eltern fanden es sinnvoll, dass ich das Abitur in Deutschland mache. Mutter schrieb mir elf Rezepte auf, zehn einfache und das Pflaumenhackfleischschnitzel. Sie erklärte mir, was Kochwäsche ist.
Das letzte Jahr in Essen ging es uns etwas besser. Mutter kündigte eines Morgens einfach in der Wäscherei. Sie meldete sich für einen Deutschkurs an, lernte drei Monate lang jeden Tag. Danach schrieb sie siebzig Bewerbungen. Bei der einundsiebzigsten erwähnte sie nicht, dass sie Bosnierin ist und bekam einen Job als Kassiererin.
Mit Vater sprach ich hier so selten, dass ich manchmal überrascht war, wenn ich meinen Namen in seiner Stimme hörte. Mutter war krank, dann gesund geworden, Vater still, dann älter geworden und jetzt sitzt er in der Sonne, malt wieder Stillleben und verkauft sie sogar.
Weißt du, Asija, ich habe mir keine Mühe gegeben. Ich habe mir all die Zeit keine Mühe gegeben, nachzufragen oder überhaupt zu fragen, was meine Eltern denken oder was sie wollen oder wie ich helfen kann, damit es uns hier besser geht. Es war mir peinlich, zu ihren Vorstellungsgesprächen mitzugehen, es war mir peinlich, die an sie gestellte Frage zu übersetzen: wie gut ist Ihr Deutsch? Für meine taubstumme Nena Fatima habe ich mich nie geschämt, obwohl sie bei Witzen lachte und im Schlaf redete. Sie hatte hier mehr Freundinnen, als ich jemals Freunde haben werde. Sie hörte ihnen zu, wenn sie sich unterhielten, wurde um Meinung gefragt, nickte oder schüttelte den Kopf. Dann saß sie aber auf dem Bürgersteig vor dem Haus und hat sich die Zehennägel geschnitten. Über Florida hat sie sich am allermeisten gefreut. Sie steht früh auf und schwimmt im Swimming-Pool der Nachbarn jeden Tag eine Bahn mehr.
Ich wünschte mir manchmal, dass man mich »Alexander« schreibt und oft, dass man mich einfach in Ruhe lässt. Lange Zeit dachte ich, dass ich meine Pubertät nur spiele, damit sich meine Eltern keine Sorgen machen. Irgendwann wollte ich aber wirklich keinen Krieg mehr sehen und von keinem Leiden mehr etwas wissen, von keiner Flucht.
Heute ist 1. Mai, und Oma Katarina möchte mir ein Paket aus Višegrad schicken. Oma Katarina möchte mir immer am 1. Mai ein Paket schicken. Fotos von Tito, Opas Reden und Orden, meine Pionieruniform. Oma erzählt mir jedes Jahr um diese Zeit, dass ich die Uniform besonders gern an kirchlichen Feiertagen getragen habe, ganze Passagen aus dem »Kapital« auswendig konnte und ihre Bedeutung verstanden habe.
Und mein Vater kauft sich jetzt Kautabak und sagt: Kokosnüsse !, sagt: ich bin der erste Bosnier, der weiß, wie Kautabak funktioniert, und Mutter sagt: die Jacksonville Jaguars haben diese Saison ein gutes Team. Abends werden andere Bosnier eingeladen. Mothermade Ćevapčići und Supermarkt-Hamburger werden auf der Veranda gegrillt, und die Grillen zirpen, der Asphalt kühlt ab und riecht nach Zimt. Ein gewisser Dino Safirović erzählt, wie er mit seiner Truppe gegen die Serben Fußball zwischen den Schützengräben gespielt hat, wie er den entscheidenden Schuss mit dem Gesicht gehalten hat, seitdem aber keine Verschlusslaute mehr bilden kann. Er erzählt, wie er in einem hohlen Baumstamm Feuer machen wollte, in dem eine Handgranate lag, und meine Mutter sagt, dass sie mich vermisst. Sie kauft slowenischen Wein, und Vater ist der Meinung, unsere Grillen würden den amerikanischen den Arsch versohlen.